Vanlife und Protektorenschweiß
Kopfüber hängt Max zwischen den Querstreben des Innenausbaus unseres Vans. Aus Holz haben wir ein passgenaues Podest gebaut. Darauf liegt unsere Matratze. Darunter ist genügend Stauraum für unser Camping-Gear, unsere Mountainbike-Ausrüstung und ausreichend Werkzeug, um eine kleine Fahrradwerksatt auszurüsten. Aber im Moment liegt alles verstreut vor unserem Minivan auf dem Asphalt. Zwischen den Querstreben hängt nur noch Max, der sich mit der linken Hand abstützt und mit der rechten genervt den Boden des Vans schrubbt. Immer wenn er hochschaut, um ein weiteres Küchenpapier von mir in Empfang zu nehmen, blendet er mich mit seiner Stirnlampe. „Das alles nur, weil unser Olivenöl ausgelaufen ist“, schimpft Max und gibt kurz darauf grinsend auf. „Der Rest wird schon einziehen.“
Sommer in den Bikeparks
So starten wir gut geölt in unseren diesjährigen Bike-Trip. Jeden Sommer zieht es tausende Mountainbiker in die Alpen. Besonders beliebt sind die Bikeparks. Bei diesen brettert man immer in Richtung Tal, da hier die Liftanlagen der Skigebiete, die im Sommer eigentlich stillstehen würden, die Biker auf den Berg befördern. Zurück ins Tal geht es auf Strecken, die extra für Mountainbiker angelegt sind und von Sprüngen und steilen Wurzelteppichen gesäumt sind. Im größten Bikepark Österreichs, in Leogang, wurde 2020 200.000-mal ein Mountainbiker mit der Gondelseilbahn auf den Berg befördert. Von einfachen blauen Anfänger-Strecken bis hin zu schwarzen Profi-Lines bieten die meisten Bikeparks eine große Auswahl an Trails. Für die anderen Menschen, die in den Bergen unterwegs sind, ist es meist unverständlich, wieso man dort herunterfahren möchte. Aber für uns ist das das Paradies. Wir, das sind Max, Johannes, Martin und ich, Paul. Seit drei Jahren verbringen wir unsere Sommer auf den staubigen Parkplätzen vor den Bikeparks der Alpen und schießen tagsüber auf unseren Bikes steile Hänge hinunter und mit Rampen in die Luft.
12-Meter-Sprung
Das ist auch der Plan nach unserer ersten Nacht auf dem Stellplatz beim Bikepark Schladming, das in der österreichischen Steiermark liegt. Hierher hat uns eine neu angelegte Jumpline gelockt, die mit 99 Sprüngen hintereinander und 12-Meter-Gaps eine der größten Österreichs ist. Ein Gap ist ein Sprung, bei dem zwischen Absprung und Landung ein Loch ist, was zu schweren Konsequenzen führt, falls man die Landung nicht schafft. Das habe ich auch im Kopf, als ich auf den größten Sprung der Strecke zufahre. Die Absprungrampe ist größer als ich und ragt vor mir mit ihren drei Metern wie eine Wand in den Himmel. Unter mir beschwert sich mein Bike lautstark über die 40 km/h, mit denen ich es über die ruppige Abfahrt in Richtung Absprung peitsche. Aber wenn ich es über das Zwölf-Meter-Gap schaffen möchte, darf ich nicht bremsen. Als ich den Absprung erreiche, übernimmt das Muskel Gedächtnis. Alles funktioniert wie von selbst. Kurz bin ich in der Luft, lang genug, um zu realisieren, dass ich drei Meter über dem Boden fliege und dann schon in der Ladung. Hinter mir schafft auch Martin den Sprung. Wir halten neben dem Track an und klatschen ab. Wegen des Cocktails aus Endorphinen und Adrenalin in unserem Blut schreien wir uns fast an. „Das war so geil!“, feiert Martin, „Ich hätte nicht gedacht, dass du gleich den großen springst.“ Ich schreie ihm außer Atem und super stolz entgegen: „Ich auch nicht, aber ich hab’s grad einfach gefühlt.“
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Die Anfänge in Kanada
Aber dass wir den Sprung geschafft haben, liegt nicht nur an unserem antrainierten Muskel Gedächtnis, sondern auch an unseren Fahrrädern. Diese sehen nicht aus wie Fahrräder, sondern eher wie Motocross-Maschinen, bei denen der Motor geklaut wurde. Doch das war nicht immer so. Der Sport hat seine Wurzeln in Kanada, wo in den 90er Jahren ein paar Draufgänger das erste Mal die ausgefahrenen Waldwege verließen. Auf ihren klapprigen Drahteseln stürzten sie sich die steilen Geröll-Hänge von Kamloops hinunter. Die Mountainbike-Szene war entsetzt. Keine Rad-Marke wollte mit diesen selbsternannten Freeridern zu tun haben. Doch der Adrenalinsport war nicht mehr aufzuhalten. Längst hatten Freerider in den moosigen Wäldern der Westküste begonnen ihre eigenen Strecken zu bauen. Die Biker in British Columbia erfanden die Holz-Drops – Planken, die waagrecht aus dem Hang ragen, um mitten in der Luft aufzuhören. Für die harten Landungen nach den Drops waren die Bikes dieser Zeit nicht ausgelegt und so entwickelten sich Fahrer und Räder immer weiter.
1999 öffnete der erste Bikepark der Welt auf den Hängen des Skiressorts in Whistler, Kanada. Dieser war ein riesiger Erfolg und ist bis heute ein Mekka für Mountainbiker auf der ganzen Welt. So verbreitete sich das Konzept und mit den Bikeparks eine neue Spezies, die sogenannten „Park-Rats“.
Park-Ratten
Diese sind auf den Parkplätzen vor den Liftstationen anzutreffen. Hier in Schladming leben wir unter den „Park-Rats“, besser gesagt sind wir ein Teil von ihnen. Überwiegend junge Männer, die in umgebauten Vans oder Zelten schlafen und immer wieder Familien mit ihren großen Caravans, die mit ihren Kindern ein Actionurlaub machen. Abends nach der letzten Abfahrt spritzen wir schnell unsere Bikes ab und schnappen uns sofort unsere Handtücher, um auf unseren Rädern zum Duschcontainer zu rollen. Dieser steht etwas bergab hinter der Talstation. Im Untergeschoss eines Parkhauses zwischen Müllcontainern und Baggern reihen wir uns in die Schlange der verschwitzten Biker ein. Während sich manche schon abtrocknen, liegt noch der aufgewirbelte Staub der letzten Fahrer in der Luft. Eine halbe Stunde nachdem der Park schließt, macht auch der Duschcontainer dicht. Nach unserem Dosenabendessen spülen wir unser Geschirr auf dem Boden vor den Klocontainern. Dabei merke ich, wie anstrengend der Tag war. Ich kann die Position in der Hocke nur wenige Sekunden halten, bevor mein Oberschenkel anfängt zu verkrampfen. Aber das wundert mich nicht, denn obwohl man dank des Lifts nur bergab fährt, muss man eine enorme Körperspannung halten. Die G-Kräfte wirken auf den Körper wie ein Fitnessstudio. Um das Fahrrad zu kontrollieren, squattet man einige Zentimeter über dem Sattel und winkelt seine Ellenbogen über dem Lenker an, bis man sich in einer Art Liegestützposition befindet. Diese konstante Anstrengung führ dazu, dass sich sehnige Muskeln bilden. Anders als im Fitnessstudio sehen die Menschen hier nicht aufgepumpt aus. Martin und Johannes, die in Innsbruck wohnen und deren Körper das ganze Jahr über den Trails der Alpen ausgesetzt sind, sehen aus wie hagere Cowboys, die den ganzen Tag lang körperlich arbeiten.
Abends liege ich eingekuschelt in meiner Decke im Van und beobachte durch die offene Schiebetüre die Sterne am wolkenlosen Himmel. Es ist kalt geworden im Alpental. Auch im Sommer fallen hier die Temperaturen nachts manchmal auf unter 15 Grad. Drei Vans weiter sitzt noch eine große Gruppe um ein Lagerfeuer und erzählt sich von den krassen Abfahrten, die sie heute geschafft haben. Ihr Gemurmel schläfert mich langsam ein, während ich mir denke, was für ein komisches Völkchen wir eigentlich sind.
Vier Freunde
Aber um diesen Sport zu betreiben, muss man schon etwas eigen sein. Auch unsere Truppe besteht aus besonderen Persönlichkeiten. In Max' Zimmer stehen eine Werkbank zum Löten und ein 3-D-Drucker. Damit tüftelt er an seinen Erfindungen, wie zum Beispiel 3-D-gedruckten Bremshebeln oder einer Lampe für Nachtausfahrten. Um den Akku im Flaschenhalter seines Fahrrads anzubringen, hat Max diesen in einer Bierdose untergebracht. Martin und Johannes sind Brüder, die in einer WG zusammenleben und in den drei Jahren ihres Studiums in Innsbruck fast jeden Berggipfel erklommen haben, aber noch auf keiner Uni-Party und in keiner Bar gewesen sind. Und zu guter Letzt ich, der jeden Sommer monatelang in seinem kleinen Van lebt, entweder mit Freunden oder mit seiner Lebensgefährtin.
Parkplatz-Camping
Am Morgen des vierten Tages unseres Bike-Tripps ist es an der Zeit weiterzuziehen. Aber erst einmal müssen wir unsere Sachen in den Van packen. Das Ganze ähnelt einem unkoordinierten Umzug, denn Campen ist nicht nur eine Übung in Minimalismus, sondern auch im maximalen Rumräumen. Als ich Max frage, ob er mir das Besteck geben kann und der antwortet „Ne das ist jetzt ganz hinten im Van“, esse ich meine Nudeln, die noch auf dem Campingtisch stehen, aus der Kaffeekanne mit dem Dosenöffner. Währenddessen ärgert sich Max mit unserem Pavillon-Zelt herum. „Warum müssen wir das immer mitschleppen?“, schimpft er. Aber er weiß auch, dass es essenziell ist für unser Leben vor den Bikeparks. Unter dem Pavillon hängen wir abends unsere schwitzigen Protektoren-Westen auf und benutzen es gleichzeitig als Wohnzimmer, das vor Regen und Sonne Schutz bietet. Diese Kombination führt zu einem säuerlichen Geruch, der während dem Abendessen in der Luft liegt. Es ist auch schon vorgekommen, dass uns etwas Angstschweiß aus den Protektoren in den Topf getropft ist.
Krankenhaus und Leidenschaft
Als dann alles verstaut ist, ist das ein geiles Gefühl. Alles was wir brauchen, haben wir in unserer Blechbox dabei. Wenn wir wollten, könnten wir so bis nach Shanghai fahren. Erstmal geht es aber zwei Stunden über die Autobahn nach Lienz. Dort fahren wir am fünften Tag im Regen auf die Trails und nach wenigen Metern ins Krankenhaus. Martin hat sich seinen Lenker bei einem Sturz in die Brust gerammt und ist danach 10 Meter einen Abhang hinuntergestürzt. Das Röntgenbild der Rippen zeigt später, dass nichts Schlimmes passiert ist. Nach einem Tag aussetzen fährt Martin wieder mit, auch wenn sein Brustkorb noch etwas drückt. Im Vergleich zu den Verletzungen, die uns bisher schon widerfahren sind, ist das aber nur ein kleines Wehwehchen. Ein Jahr zuvor hat Martin sich im Bikepark Brandnertal seinen Rücken gebrochen und auch seinen Bruder Johannes hat es schon übel erwischt. Nach einer Gehirnerschütterung war er einen ganzen Tag lang nur schwer ansprechbar.
Solche Unfälle sind beim Mountainbiken an der Tagesordnung. Täglich haben wir in Schladming gesehen, wie Biker mit dem Helikopter abtransportiert wurden und trotzdem ist der Sport so beliebt, wie noch nie. Auch wir sind nach unseren Verletzungen immer wieder zurück zum Biken gekommen, egal wie schwer sie waren. Mountainbiken ist für uns kein Hobby, sondern eine Leidenschaft und es heißt nicht umsonst leiden.
Dieses Mal ist aber alles gut gegangen und nach einer Woche Biken fahren wir unversehrt in Richtung Innsbruck dem Sonnenuntergang entgegen. Bei uns allen herrscht ein komischer Gefühls-Cocktail. Natürlich ist man traurig, dass die Zeit unterwegs vorbei ist. Gleichzeitig hat sich, durch die intensiven Erlebnisse, die Woche angefühlt wie ein ganzer Monat. Auch wenn wir das Leben auf den staubigen Bikepark-Parkplätzen genossen haben, freuen wir uns auf das eigene Klo und eine richtige Küche. Während die Sonne langsam am Horizont verschwindet, diskutieren wir im Van schon über die nächsten Ziele. Wir sind uns einig, dass wir noch mal nach Lienz und Schladming wollen, aber es gibt noch so viele andere Bikeparks in den Alpen. Oder doch mal nach Kanada?