„Wir sind nicht gefährlich! Nur weil wir mehr sind, heißt das nicht, dass wir gefährlich sind. Auch wenn das irgendwelche Filme so darstellen.“
20 Mal Ich - nur anders
Robin hat aufgrund von traumatischen Erfahrungen eine Dissoziative Identitätsstörung entwickelt – kurz DIS. Diese psychische Krankheit ist eine Folge von starker oder systematischer Gewalt, der eine Person sehr früh ausgesetzt ist. Die traumatischen Erfahrungen im kindlichen Alter machen es dem Gehirn unmöglich, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile, die jede*r als Baby hat, zusammenzuführen und zu integrieren. In gewisser Weise ist das ein Überlebensmechanismus des Gehirns, da die verschiedenen Anteile so die Aufgabe übernehmen können, schlimme Dinge von der „Hauptperson“ fernzuhalten.
Wenn man Robin trifft, sieht man von seiner Krankheit gar nichts, wie das bei psychischen Problemen meistens der Fall ist. Mit einem Lächeln fängt er an, zu erzählen. Was schnell auffällt und ein erster Indikator für die DIS ist: Er verwendet meist plurale Pronomen um alle Anteile miteinzuschließen.
Seit Juni 2021 haben Robin und die anderen Persönlichkeitsanteile die offizielle Diagnose. Insgesamt wohnen momentan 20 individuelle Anteile in Robins Kopf, ihn miteingeschlossen. Deswegen ist er momentan auch „arbeitsunfähig“, da das ständige Wechseln der Person, die den Körper kontrolliert, einen normalen Arbeitsalltag unmöglich macht. Angefangen hat das ganze schon viel früher.
Wann habt ihr gemerkt, dass mehr als nur eine Person bei euch anwesend ist?
Robin*: Ich habe mit 17 das erste Mal Stimmen gehört, das war damals Kazou. Der hat mittlerweile aber auch schon gebeichtet, dass er schon um einiges länger da ist. Scheinbar ist er zehn, fünfzehn Jahre mindestens schon da, ich habe halt erst mit 17 Jahren Kontakt mit ihm gehabt. Aber Anfang 2018 habe ich gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt. Ich habe eine Stimme gehört, die meinte: „Hey, darf ich Auto fahren?“. Im nächsten Moment war ich auf dem Spielplatz.
Wie kommuniziert ihr miteinander?
Robin: Wir können innerlich miteinander kommunizieren. Ich selbst habe keinen Zugriff auf die innere Welt, aber die anderen erklären das so: Man muss sich die innere Welt wie einen Kinosaal vorstellen. Je weiter vorne man ist, desto besser sieht man was draußen grade passiert. Das ist quasi wie ein Livestream vor den Augen. Und die, die im Kinosaal sitzen, hören alle die Gedanken von der Person, die gerade frontet, also die gerade den Köper kontrolliert und auch das, was ausgesprochen wird. Ich höre diejenigen, die weiter vorne sind, da geben sie auch gerne mal ihre Kommentare dazu ab. Vor allem Taro.
Kannst du uns ein paar der anderen Persönlichkeitsanteile mal vorstellen?
Robin: Bei uns haben unterschiedliche Persönlichkeitsanteile sozusagen verschiedene Aufgaben in der inneren Welt. Eiji zum Beispiel ist „Soother“ und „Caregiver“. Soother sind dafür da, dass sie andere im System beruhigen, wenn es ihnen schlecht geht. Caregiver bedeutet für uns, dass diese Personen auf den Körper achten. Also dass wir uns vernünftig anziehen, duschen gehen, Zähne putzen und so weiter.
Kaz ist auch Soother und zusammen mit Kaito „Gate-Keeper“. Die sind bei uns dafür zuständig, dass sie kontrollieren, wer frontet. Die können auch schneller nach vorne als alle anderen und können andere auch schneller zurückziehen. Kazou ist Protector und „Trauma-Holder“. Er hat Zugriff auf meine Traumata und hält die auch von mir fern. Ich selbst kann mich an mein Trauma auch gar nicht erinnern.
Wir haben zwei „Littles“, das heißt Kinder unter zwölf Jahren, eine von denen ist „Memory-Holder“. Das bedeutet, sie kann quasi ins „Archiv“ gehen und da alle Erinnerungen „nachlesen“. Der andere ist „Protector“, also er will uns beschützen.
„Diese Art von Aufteilung von Alltagsaufgaben sind Folgen von widrigen Umständen. Besonders in schlimmen Gewaltsituationen ist es sinnvoll, aufgeteilt zu sein, um diese Umstände besser aushalten zu können. Die „Hauptperson“, also der Personenanteil, der sich um die meisten alltäglichen Dinge kümmert, hat da als Hauptmodus seiner Funktionsweise die Ignoranz. Der kann dann sagen „Das ist gar nicht mir passiert“, sondern diesem fragilen kindlichen Teil, der sich dann in Form eines kindlichen Persönlichkeitsanteils äußert.“ – Psychiater Harald Schickedanz, 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation
Wart ihr überrascht von der Diagnose?
Robin: Einerseits ja, andererseits habe ich schon den Verdacht gehabt, dass da irgendwas ist. Zu dem Zeitpunkt als ich gemerkt hab, dass jemand anderes da ist, der auch die Kontrolle übernehmen kann, habe ich auch schon einen Freund mit der Diagnose DIS gehabt. Ich habe dann recherchiert, hab alles aufgeschrieben und damit bin ich dann zu meiner Psychologin und meinem Psychiater gegangen. Einerseits habe ich mich gefreut, dass ich richtig gelegen habe. Aber andererseits habe ich mir dann gedacht: „Okay, jetzt weiß ich genau, dass es mir doch nicht so gut ging wie ich erwartet habe.“ So irgendwo ist es doch noch ein Schlag ins Gesicht gewesen.
Haben die Menschen um euch herum auch etwas gemerkt?
Robin: Mein Exfreund hat immer mal wieder gesagt „Hey, du bist nachts spazieren gegangen, wo bist du hin gegangen?“ Und ich wusste davon nichts. Also ich habe wirklich überhaupt keine Ahnung gehabt, worüber er redet. Und er hat immer wieder gesagt, ich wäre nachts spazieren gegangen, ich hätte dies, das und jenes gesagt, und ich war komplett verwirrt.
Was war das für ein Gefühl?
Robin: Es war eine sehr große Verwirrung. Weil ich natürlich erst dachte, dass Menschen mich anlügen oder manipulieren wollen. Weil ich wirklich einfach nicht verstanden habe, dass da jemand anderes da ist, der die Kontrolle übernimmt.
Wie kann man sich das vorstellen, wenn die Person, die frontet, wechselt?
Robin: Die Dauer von einem Switch ist immer unterschiedlich. Es kommt immer darauf an, ob man sich dagegen wehrt oder nicht. Oft dauert das höchstens 30 Sekunden. Es kommt halt auch darauf an, wie gut die Person im Fronten ist und ob das ein Gate-Keeper ist oder nicht. Die Leute um uns herum merken auch meistens, wenn wir switchen. Nur manchmal ist der Übergang so nahtlos, dass man es nicht merkt, zum Beispiel bei Taro auf Kazou, weil deren Stimmen auch sehr ähnlich sind. Sylvester und Kaz zum Beispiel erkennt man aber immer.
Laut Schickedanz ist das Ziel von Therapien bei Personen, bei denen sich eine Dissoziative Störung aufgrund von Traumata in der frühen Kindheit entwickelt, gar nicht unbedingt die Integration aller Teile. Schließlich waren die Persönlichkeitsanteile nie integriert. Die verschiedenen Anteile hätten sich teilweise seit der Kindheit weiterentwickelt und hätten demnach auch verschiedene Charaktereigenschaften. Es sei also erst einmal wichtig, dass den Anteilen bewusst wird, dass sie alle Teil des Körpers sind. In dieser Phase sei das Wechseln der Anteile, die den Körper kontrollieren, (Switchen) typisch.
Wie funktioniert das mit wichtigen Entscheidungen?
Robin: Wir machen Abstimmungen auf einer App. In der ist jeder eingetragen und hat sein eigenes Profil und kann bei Sachen, wie zum Beispiel Haare schneiden, mitentscheiden. So treffen wir meistens Entscheidungen. Wenn es mal schnell gehen muss, dann entscheidet meistens Taro. Er ist bei uns momentan der Älteste und übernimmt auch viele Aufgaben. Es kommt aber auch vor, dass Leute Entscheidungen treffen, ohne sich vorher abzusprechen, vor allem wenn es darum geht irgendetwas einzukaufen. Leon kauft gerne unnötige Scheiße und Energy Drinks. Es passiert zwar nicht so oft, aber meistens gibt’s für die Person dann ein Front-Verbot, also die Person darf dann nicht nach vorne für ein paar Tage.
Und wie ist das mit Beziehungen?
Robin: Wir haben gesagt, dass jeder eine Beziehung führen darf, wie er will. Man muss sich halt an bestimmte Regeln halten. Bevor die Beziehung zustande kommt, muss jeder von uns die Person erstmal kennen lernen. Aber wenn zum Beispiel Minderjährige in eine Beziehung mit jemandem wollen, der auch minderjährig ist, dann wäre ich da sehr strikt dagegen. Weil unser Körper schließlich trotzdem noch erwachsen ist.
Was bekommt ihr teilweise an den Kopf geworfen?
Robin: Es gibt viele Leute, die sagen „Ihr macht das nur für Aufmerksamkeit oder DU machst das nur für Aufmerksamkeit“. Aber ich hab mir nicht ausgesucht, krank zu sein. Wenn ich mir aussuchen könnte, ein System zu sein oder nicht, dann würde ich definitiv sagen ich wäre viel lieber kein System. Weil eben so viel Trauma dazu gehört und dieses tägliche Trauma normal geworden ist. Es ist auch ein Unterschied, ob man jemanden immer mit sich hat und ob man psychisch erkrankt ist. Das ist halt das große Ding, das viele nicht sehn. Das ist ja auch nicht, wie wenn ich jetzt 19 Freunde mit in meinem Kopf hätte. Das ist immer noch eine Erkrankung, die nicht wirklich beneidenswert ist. Ich selbst bin auch nur mit ein paar wirklich befreundet. Manche der Alters sagen auch, sie erinnern sich an ihren eigenen Tod und sagen dann teilweise, sie wüssten nicht, ob sie jetzt sozusagen nochmal eine zweite Chance bekommen haben oder ob sie in ihrer persönlichen Hölle sind. Das ist dann schon n bisschen hart.
„Trauma entsteht eigentlich immer durch Machtunterschiede.“
Wie wünscht ihr euch, dass man mit euch umgeht?
Eiji: Weil eben jedes System anders ist, müsste man sich am besten mit ihnen absprechen, wie sie sich wohler fühlen und was für sie richtig ist. Man sollte es Einzelnen auch nicht übel nehmen, wenn diese nichts mit einem zu tun haben wollen. Wenn man fragen will, wer im Moment frontet, sollte man sicherstellen, dass das für das System sicher ist. Also sollte man das zum Beispiel nicht am Arbeitsplatz ansprechen, wenn die Kollegen nichts davon wissen. In so einer Situation könnte man zum Beispiel kurz eine Nachricht per Privatchat schicken und fragen, ob man wissen darf, wer frontet.
Robin: Bezogen auf uns ist es am besten, einfach gleich von Anfang an zu fragen, wer gerade da ist, also mit wem man redet. Weil jeder Alter halt auch seine eigene Persönlichkeit hat und eigene Bedürfnisse und Wünsche. Man muss mit jedem dann auch anders umgehen. Zum Beispiel will der eine eigentlich gar nicht reden oder ist nur für sich, während andere ganz offen sind. Einer ist auch sehr menschenscheu und bekommt in der Öffentlichkeit Panikattacken. Der wird auch manchmal stumm und verständigt sich dann mit dem Fingeralphabet und das versteht halt auch nicht jeder. Und wir haben auch welche, die nur auf Englisch reden. Was ich auf jeden Fall sagen will: Wir sind nicht gefährlich! Nur weil wir mehr sind, heißt das nicht, dass wir gefährlich sind. Auch wenn das irgendwelche Filme so darstellen.
„Dass die Krankheit Dissoziative Identitätsstörung so wenig bekannt ist, liegt vor allem an der Ignoranz der meisten Menschen. Viele Menschen, die mit Psychosen oder Schizophrenie in psychiatrische Einrichtungen kommen, haben eigentliche irgendeine Art von Dissoziativer Störung durch ein in ihrer Vergangenheit erfahrenes Trauma. Trauma entsteht eigentlich immer durch Machtunterschiede.“ – Schickedanz
Warum habt ihr euch dazu entschieden eure Krankheit auf Social-Media zu teilen?
Robin: Das hat Taro alleine entschieden. Der hat das nicht mal irgendwie besprochen, sondern hat einfach gesagt: „Wir machen jetzt Tiktok“. Ich glaube, er wollte einfach nur seinen Spaß haben und hat nicht gemeint, dass wir da jetzt wirklich Aufklärungsarbeit betreiben. Aber ich glaub, mit der Plattform, die wir haben, können wir auch Gutes bewirken und das Stigma auch etwas entlasten.
*Im Interview kam vor allem Robin zu Wort, der bei vielen Antworten für alle Persönlichkeitsanteile spricht. Allerdings haben auch andere Anteile sich teils am Interview beteiligt. Welcher Anteil die Aussage trifft wurde mir erklärt und ich habe dies bei den Antworten entsprechend markiert.