Schwul sein ist eine Sünde; Die Bibel sieht eine Frau für einen Mann vor und umgekehrt.
„Schwul sein ist eine Sünde“
Aufgedrehte Klimaanlage, gedimmtes Licht, schnarchende Männer. Fliegen ist doch immer wieder eine besondere Erfahrung. Wer kommt auch nicht gerne erkältet und unausgeschlafen im Urlaub an?
Sobald ich das letzte Flugzeug nach zwei Zwischenstopps verlasse, laufe ich in eine Wand von Hitze. Durch den vollen Terminal zum Gedrängel um die Gepäckausgabe. Während ich nach meinem Gepäck suche, steigert sich die Vorfreude, gemischt mit Nervosität. Und dann ist alles leer im Kopf. Alle Emotionen verlassen meinen Körper in der Sekunde, in der ich kleine Kinder auf mich zu rennen sehe und sie in meine Arme fallen. Ihre Eltern direkt dahinter. Grinsend von einem bis zum anderen Ohr. Vom kalten Flugzeug in die warmen Umarmungen, die fest und vertraut sind. Ganz anders, verglichen zu genau diesem Tag fünf Jahre zuvor.
Am 11. August 2018 bin ich das erste Mal in dem Dallas-Fort Worth Flughafen in Texas gelandet. Ein Tag, der mir eine Türe in eine ganz andere Welt öffnete. 15 Jahre alt und allein auf einem neuen Kontinent. Es ist eine Weile her, dass ich meine Gastfamilie das erste Mal gesehen habe und in ihre Arme geschlossen wurde. Umarmungen, die sich noch unvertraut und neu angefühlt haben. Umarmungen von Menschen, die ich ab diesem Tag erst kennenlernen würde. Heute erinnere ich mich gerne an den Moment zurück, an dem meine kleine Gastschwester Abby auf den Armen ihrer Mama saß und mir ein kleines Katzenkuscheltier entgegen drückte. Sie war gerade mal zwei Jahre alt, wilde Locken auf dem Kopf, in ihrem Pyjama und einen müden Blick auf dem Gesicht. Es war fast Mitternacht. Die blauen Augen ihrer Mama Jenni lachten mich herzlich an, ihre blonden, mittellangen, glatten Haare umrahmten ihr hübsches Gesicht. Abbys Papa Harry war direkt zur Stelle, um mir mit den Koffern zu helfen. Groß, muskulär, keine Haare auf dem Kopf. Er hatte wie seine kleine Tochter tief-dunkle Augen, die eine besondere Wärme ausstrahlten.
Der „Bible Belt“, auf Deutsch Bibelgürtel, beschreibt eine Reihe von Staaten in den USA, die überwiegend von konservativ-christlichen Werten geprägt sind. Der evangelikale Protestantismus ist hier ein fester Bestandteil im Leben der Einwohner. Der Bible Belt befindet sich in den südlichen und in Teilen östlichen Regionen der USA. Die Vereinigten Staaten sind insgesamt bereits eines der Länder mit der höchsten christlichen Bevölkerung, was durch die sehr präsenten Einflüsse dieser Werte in den Südstaaten zusätzlich verdeutlicht wird. Der Staat Texas vertritt politisch und gesellschaftlich in großen Teilen stark die christlichen Aspekte, die der Bible Belt beschreibt. Seit 1980 wurde von Texas in jeder Präsidentschaftswahl ein republikanischer Kandidat gewählt. Die republikanische Partei ist dafür bekannt, eher konservative Ansichten zu vertreten. Damals war mir zwar bewusst, dass Texas nicht Deutschland ist. Nicht bewusst war mir aber, wie sehr die Bibel die Menschen hier beeinflusst. Ich selbst bin mit dem katholischen Glauben geboren, aber er war nie ein großer Teil meines Lebens. Man kann nicht wirklich sagen, ich hätte mich je intensiv mit meinem Glauben beschäftigt oder großen Wert auf ihn gelegt. Man wurde getauft, hatte Kommunion und Firmung. Aber das war dann auch schon alles. Nichts im Vergleich zu den Dingen, die ich in Texas in knapp sechs Monaten lernen würde.
Das erste Mal, dass ich mit dem Glauben meiner Gastfamilie konfrontiert wurde, war gleich am ersten Sonntag in Plano, Texas. Das erste Mal Kirche. Erwartet hatte ich eine „normale“ Kirche und einen langweiligen Gottesdienst mit altmodischen Gesängen. Was ich zu sehen bekam, war ein modernes Gebäude, moderne Lieder mit kirchlichen Texten und Menschen, die ihre Hände in die Luft hoben oder auf die Knie fielen während des Singens. Für mehrere Momente dachte ich, ich sei in einer Sekte gelandet. Die Menschen um mich herum fühlten mit der Musik, als wäre es ein Taylor Swift Konzert und sie hätten durch harte Arbeit Tickets ergattert. Ich war verwirrt und überwältigt. All das war fremd. Heimweh überkam mich. Auch Anrufe nach Hause halfen nicht besonders viel. Als so junges Mädchen in die USA zu kommen, ein Land, das man nur aus Filmen kannte, setze Erwartungen in mir frei, die so nie erfüllt werden konnten. Meine Highschool, meine Gastfamilie, mein Heimweh. Trotzdem war die Entscheidung dorthin zu gehen goldrichtig.
Ich kann mich erinnern, wie wir eines Abends auf der Couch saßen und eine Show zusammen ansahen. Das Wohnzimmer meiner Gastfamilie war ein warmer Raum mit einer gemütlichen Couch und Sesseln. Über dem großen Feuerplatz hing ein noch größerer Fernseher auf dem wir jeden Abend zusammen „trash-TV“ schauten. Bis heute bin ich der Meinung, dass mein Gastvater die witzigste Person ist, die ich je kennengelernt habe. Wir lachten, diskutierten und bildeten eine Verbindung, die ich so noch nie erlebt hatte. Der eine Abend machte mir jedoch klar, mit was ich die nächsten Monate neben den wunderbaren Sachen auch klarkommen werden musste. In der Show, die wir ansahen, gab es ein schwules Pärchen. Mein Gastvater schüttelte den Kopf.
„Schwul sein ist eine Sünde“, sagte er. „Die Bibel sieht eine Frau für einen Mann vor und umgekehrt.“
Sätze, die in meinem Leben noch nie jemand zu mir gesagt hat. Sätze, die mich schockierten und lange Zeit nicht mehr losließen.
„Wir verstehen, dass du aus einer anderen Kultur kommst und wollen dir unsere nicht aufzwingen. Aber wenn du Fragen hast, werden wir immer ehrlich antworten, auch wenn unsere Meinungen nicht dieselben sind.“ Harry und Jenni waren immer darauf bedacht mir zu zeigen, dass Unterschiede in Ordnung sind und man nicht immer einander zustimmen muss. Mit diesen Aussagen begannen endlose Nächte mit Diskussionen über die Bibel, Jesus, Gott, Menschen, Werte und Normen. Anfangs war für mich unerklärlich, wie Menschen so denken konnten. Ich war als „Kind“ offener als jeder einzelner der Menschen in der Kirche, die wir jeden Sonntag besuchen würden. Aber mit jeder Diskussion mehr wurde mir klar, woher solche Aussagen stammten. Für meine Gasteltern und ihre Mitmenschen war die Bibel nicht nur ein Buch. Es war etwas, dass ihr ganzes Leben bestimmte. Sie glaubten und folgten allem, was sie ihnen sagte, auch wenn sie damit nicht immer übereinstimmten. Sie gaben ihr volles Vertrauen darin, dass die Bibel die Wahrheit sei und sie an das ultimative Ziel führen würde. Das Paradies. Ein Nachleben neben Jesus selbst. Für meine Gasteltern war das Einzige, was das Leben auf dieser Erde hier sinnvoll machte eine Beziehung zu Gott und dies ihren Kindern und anderen Menschen weiterzugeben. Ihre Ehe, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, ihre Arbeitsweise und Freizeitgestaltung. Alles basiert auf der Frage: handeln wir in Gottes Willen? Beten vor jedem Essen und jeden Morgen in der Bibel lesen. Sonntags ist der Tag für die Kirche und auch unter der Woche wird sich in die Kirchengemeinde eingebunden. Sie hielten an konservativen Mitteln fest und standen für ihren Glauben ein.
Was für mich ihre Denk- und Lebensweise verständlich machte, waren nicht die Ansichten an sich, sondern die Menschen, die sie mir erklärten. Ich durfte mit in die Kirche, musste aber nicht. Ich durfte Fragen stellen und bekam immer eine ehrliche Antwort. Ich durfte immer meine Meinung sagen, ohne dass jemand sie kleinredete. Jenni prägte immer zu sagen: „Wir wissen nicht alles und lernen von dir genauso viel, wie du von uns lernen kannst. Menschen konzentrieren sich viel zu oft darauf, andere von der eigenen Meinung zu überzeugen, statt Verständnis füreinander zu finden.“ So viele Themen wie Glauben, Politik und Sozialleben aus der Perspektive einer weißen Frau und einem schwarzen Mann zu hören war einer der interessantesten Aspekte in den langen und tiefen Gesprächen abends auf der Couch. Es hat mir früh ein Gefühl dafür vermittelt, dass Situationen nicht immer einseitig sind und unterschiedliche Menschen ein und dieselbe Situation sehr anders erfahren können. Aber auch dass diese Menschen trotzdessen ähnliche Ansichten und Meinungen haben können. Meine Gasteltern wurden schnell Menschen, denen ich mein Leben, meine Gedanken und meine Sorgen anvertrauen konnte. Sie sorgten sich um mich, kauften meine Lieblingssüßigkeiten und zeigten mir neue Plätze in ganz Texas. Sie nahmen mich als Teil der Familie auf und gaben mir nie das Gefühl, es nicht zu sein. Auch wenn wir oft nicht derselben Meinung waren.
Nichts daran hat sich heute verändert. Außer mein eigenes Bild über die USA. Ich bin ich in ein Land geflogen, in dem ich mir das Leben wie in den Filmen vorstellte. Aber diese Zeit in einer konservativen Familie mit strengem, christlichen Glauben hat mir eine ganz andere Seite dieses Landes aufgezeigt. Trumps Immigrationspolitik, Ablehnung Homosexueller, Waffenpolitik, Schul-Schießereien, Rassismus. Alles Themen, über die ich endlose Gespräche mit meinen Gasteltern geführt habe. Themen, die mir gezeigt haben, was hinter dem Vorhang, den das "Land der Träume" so vehement versucht aufrecht zu erhalten, wirklich vor sich geht. Ich wurde konfrontiert mit politischen Ansichten meiner Gasteltern, die mir nicht ferner hätten sein können und welche die Toleranz beider Seiten von Zeit zu Zeit auch gerne mal auf die Probe gestellt haben.
Für mich wurde es mit der Zeit immer mehr ein Spiel von: „Lehne ich das Land ab oder zieht es mich wegen der Menschen, die ich trotz allem liebe, dorthin zurück?“
Es ist Mitte August 2023. Fünf Jahre nach meinem Auslandshalbjahr. Ich bin 20 Jahre alt und sitze in einem neuen Haus in McKinney, Texas. Es rennen zwei Kinder um mich herum, statt einem. Vieles hat sich verändert, aber was sich nicht verändert hat, ist meine Beziehung zu den Menschen, die mir damals eine Familie und ein Zuhause geschenkt haben. Menschen, die ein Teil der Person sind, die ich heute bin. Es sind Menschen, die überhaupt nicht in meine Welt gepasst haben und die trotzdem ihren Platz darin gefunden haben. Liebe kommt nicht von gleichen Weltansichten, der gleichen Religion oder dem gleichen Wohnort. Sie kommt von Herzen. Menschen, die anders denken, müssen nicht Menschen sein, die man ablehnt. Sie können eine Chance sein, zu lernen, zu verstehen und zu lieben.
Drei Wochen nach meiner Ankunft ist es Zeit wieder zu packen. Es ist Zeit, meinen kleinen Gastgeschwistern zu sagen, sie werden mich für eine Weile nicht sehen können, aber dass ich sie von Herzen liebe. Meine Gasteltern zu verabschieden ist etwas, das mir immer und immer wieder ein bisschen das Herz bricht. Menschen, die man so ins Herz geschlossen hat zu verlassen wird immer weh tun, egal wie oft ich zu Besuch bin und wieder nach Hause fliege. Meine Sachen sind gepackt, neue Erinnerungen gesammelt. Das warme Licht des Hauses meiner Gasteltern wird zum kalten Licht des Flughafens. Die Umarmungen sind fest, lang und intensiv. Man weiß, dass es die letzte Umarmung für eine Weile ist. Von den warmen Armen meiner Familie in das kalte Flugzeug.
Eine weitere Reise nach Hause mit aufgedrehter Klimaanlage, gedimmten Licht und schnarchenden Männern steht bevor.