„Wenn der Sport nicht wäre, dann hätten wir uns schon eingegraben.“
Tanzen ist wie Träumen auf Rollen
Jean-Marc ist querschnittsgelähmt. Durch die Spätfolgen einer Krebsbestrahlung mit 18 Jahren sitzt er im Rollstuhl. Doch trotz zahlreicher Rückschläge haben er und Andrea mittlerweile zum 13. Mal die Deutsche Meisterschaft gewonnen. Nach Jean-Marcs Nierenentnahme verordnete sein Arzt, der die beiden schon länger kennt: mindestens vier Wochen kein Training! Exakt nach dieser Frist waren Jean-Marc und Andrea wieder auf dem Parkett. Seine Frau ist überzeugt:
Sie ist beim Tanz der gehende Part, „Fußi“ genannt, während Jean-Marc der „Rolli“ ist. Bis auf wenige Figuren und einige Seitwärtsbewegungen unterscheiden sich die Schritte und die Technik für den „Fußi“ nicht vom herkömmlichen Tanzen. Der „Rolli“ dagegen kann natürlich in der Tat nicht mit den Füßen tanzen. „Man muss verstehen, dass man nicht nur mit den Füßen, sondern auch mit dem Körper tanzen kann“, erklärt Andrea.
Normalerweise führt der Herr beim Standardtanz. Beim Rollstuhltanz übernimmt das der „Fußi“ – also teilweise die Dame. Tatsächlich kann sich das nachteilig auswirken, denn einige Juroren halten an der herkömmlichen Rollenverteilung im Paartanz fest. „Aber ich kann mich ja schlecht in den Rollstuhl setzen und ihn laufen lassen!“, ärgert sich Andrea.
Die Reisen für die Turniere haben das Paar schon bis nach China geführt, aber auch in St. Petersburg, Moskau, Warschau, Bratislava und Tokyo standen sie auf dem Parkett.
Teures und aufwändiges Hobby
Zwischen 2.000 und 4.000 Euro geben die beiden jährlich für den Tanzsport aus, obwohl sie sogar vom Tanzausstatter DSI gesponsert werden, wodurch Andrea nicht jedes Kleid selbst kaufen muss. So ein Turnierkleid kostet nämlich zwischen 1.500 und 2.500 Euro. „Ich muss alle ein oder zwei Jahre unsere Hausratsversicherung erhöhen!“, behauptet Jean-Marc lachend. Immerhin hätten sie sehr nette Trainer, die sie nicht arm machen, denn etwa einmal pro Woche müssten sie eine Privatstunde nehmen – auf ihrem Niveau gibt es kein Gruppentraining mehr.
Der Sport ist aber nicht nur kosten-, sondern vor allem zeitintensiv. Mit ihrem eigenen Training sowie in der Funktion als Trainerin verbringt Andrea insgesamt rund zehn Stunden pro Woche in Tanzsälen – und das neben ihrem Vollzeitjob als Medizinprodukteberaterin. Jean-Marc arbeitet als Bankberater - ab Januar geht er allerdings in den Ruhestand und kann sich dann voll auf das Tanzen konzentrieren. Und auf sein Ehrenamt: Er ist nämlich stellvertretender Vorsitzender beim Deutschen Rollstuhl-Sportverband. Beim Ehrenamt haben sie sich übrigens auch kennengelernt, damals halfen sie in der katholischen Kirche.
Natürlich müssen Rollstuhlsportler keine Turniere tanzen. Breitensportgruppen gibt es sogar in unmittelbarer Nähe von Stuttgart: zum Beispiel beim 1. TC Ludwigsburg. Hier unterrichtet Sylvia Scheerer jeden Freitagabend sechs Paare, die auf unterschiedlichste Art und Weise zum Tanzen gekommen sind.
Weil die Nachfrage nach Trainingsangeboten sinkt, können viele Vereine mittlerweile keine regelmäßigen Rollstuhltanz-Gruppen mehr anbieten. Doch wie die folgende Infografik zeigt, gibt es immer noch einige Breitensportgruppen in Deutschland, in denen Rollitänzer trainieren können:
Die drei Gruppen in Frankfurt, Wiesbaden und Karlsruhe unterrichtet im Übrigen Andrea – „Fußis“ werden laut ihr immer gesucht. Dann wird Deutschland vielleicht auch in Zukunft auf den zurzeit von Niederländern dominierten internationalen Turnieren stärker vertreten sein. Zum Beispiel beim Malta Open, zu dem Jean-Marc und Andrea eine Woche nach dem Dreh flogen.