„Für mich gibt es kein ‚nicht schönes‘ Kind.“
Wenn das erste Bild das letzte ist
Inhaltswarnung für Leser*innen:
Dieser Artikel kann Themen enthalten, die als diskriminierend und verletzend empfunden werden könnten. Der Text beschäftigt sich mit folgenden sensiblen Inhalten: Verstorbene Frühchen und Totgeburt. Bitte sei dir dessen bewusst und lies den Artikel entsprechend deiner persönlichen Sensibilität. Unsere Absicht ist es, respektvoll und einfühlsam zu berichten, um die Würde der betroffenen Personen zu wahren.
Es ist Dienstag, halb vier Uhr nachmittags in Pforzheim. Der Anruf aus Freiburg trifft Thomas Ferber völlig unvorbereitet – obwohl er wusste, dass es bald so weit sein würde. Eilig bricht er den Geschäftstermin ab, den er gerade wahrgenommen hat, packt seine Sachen zusammen und macht sich auf den Weg. Ein Ding der Unmöglichkeit, die Strecke von Pforzheim zum Freiburger Klinikum in 15 Minuten zu schaffen. „Die Hoffnung war, die Kleine noch lebendig zu erleben.“, erzählt Thomas, denn mehr Zeit hatten die Ärzte ihr nicht gegeben.
Thomas Ferber ist ehrenamtlicher Fotograf bei „Dein Sternenkind“. Die Organisation wurde 2013 nach amerikanischem Vorbild in Deutschland gegründet. Inzwischen sind es mehrere hundert Fotografen, die sich über ein eigenes Forum organisieren und es sich zur Aufgabe gemacht haben, Sternenkinder zu fotografieren. Sternenkinder: So nennt man Babys, die vor, während oder kurz nach der Geburt sterben.
Unterschied zwischen Fehlgeburten und Totgeburten
Wenn ein tot geborenes Baby mehr als 500 Gramm wiegt, handelt es sich in Deutschland rechtlich um eine Totgeburt (auch stille Geburt genannt). In diesem Fall ist das Kind bereits im Mutterleib gestorben oder hat den Geburtsvorgang nicht überlebt. Bei einer Totgeburt erhalten die Eltern eine Geburtsurkunde mit Sterbevermerk und das Kind wird in einem eigenen Grab beerdigt.
Von einer Fehlgeburt spricht man, wenn der Embryo leichter als 500 Gramm ist und zwischen der zwölften und 25. Schwangerschaftswoche stirbt.
Im Krankenhaus wird Thomas von einer Schwester empfangen und in das Zimmer geführt. Er erinnert sich noch genau an die Situation: wie er einen Raum voller Liebe betreten hat, in dem rund ein Dutzend Menschen um das Bett der Mutter herumstanden. „Ich nehme an, dass sie darüber diskutiert haben, wie die Kleine jetzt schon so lang leben kann.“, vermutet er. Denn Marleen war tatsächlich noch am Leben, fast zwei Stunden später, als Thomas kam, um die ersten und letzten Bilder von ihr zu machen.
Thomas ist im Gegensatz zu vielen anderen Ehrenamtlichen der Organisation nicht hauptberuflich Fotograf, sondern arbeitet im Außendienst eines großen Unternehmens. Seinen professionellen Umgang mit der Kamera hat er sich durch seine Liebe zur Fotografie seit der Kindheit und ein Fernstudium selbst angeeignet. Seine Motivation, sich bei „Dein Sternenkind“ zu engagieren, ist auch persönlich – er ist Vater eines Sternenkindes. Vor vielen Jahren verloren seine Frau und er ihr gemeinsames Baby. Damals durften sie weder ihr Kind sehen noch dessen Geschlecht erfahren. Eine Erfahrung, die Thomas bis heute nicht losgelassen hat.
Nach kurzem Zögern, ob er es schafft, sich ständig seinem eigenen Verlust zu stellen, hat er sich entschlossen, Sternenkindfotograf zu werden und sagt, dass es ihm auch bei seiner eigenen Trauerbewältigung hilft. „Ich will zumindest dazu beitragen, dass es heute nicht mehr so läuft, wie es damals lief.“, sagt er. „Ich finde, das Sternenkind ist genauso ein Mensch wie ein Kind, das lebt und die Eltern sind genauso Eltern wie die von einem lebenden.“
Er hätte sich so ein Angebot für sein Kind gewünscht. Denn damals gab es das weder von Seiten des Krankenhauses noch von einer ehrenamtlichen Organisation. Heute ist es anders, wie Seelsorgerin Christine Kaier vom Klinikum Stuttgart erklärt:
Ein Foto von Marleen haben sich auch Betty und Stefan Weber gewünscht und nahmen daher schon ungefähr einen Monat vor der Geburt über „Dein Sternenkind“ Kontakt mit Thomas auf. Das ist nicht der Normalfall, denn üblicherweise bekommt der Fotograf erst kurz vor seinem Einsatz eine Meldung, dass er benötigt wird und in welches Krankenhaus er fahren soll. Betty erwartete Zwillinge und erhielt schon früh die Nachricht, dass eines ihrer Kinder die Schwangerschaft nicht überleben würde. Bei Marleen wurde eine Anenzephalie diagnostiziert, eine Fehlbildung des Schädelknochens, die im frühen Embryostatus auftritt. Dabei kann das Überleben des Kindes nach der Geburt ausgeschlossen werden. Zusätzlich zu der Fehlbildung des Schädelknochens fehlten Marleen auch ein Auge und die Nase. Für Eltern und Verwandte spielte das aber keine Rolle: „Das war die allerharmonischste Stimmung, die ich jemals bei einem Sternenkind erlebt habe“, meint Thomas. „Die körperliche Fehlbildung war bei denen überhaupt nicht das Thema.“
Für Betty und Stefan sind die Bilder, die Thomas von Marleen gemacht hat, eine wichtige Erinnerung an ihre Tochter. Am Ende überwog für sie das Glück, dass ihr Sohn Mattheo lebt und gesund ist. Die Trauer um Marleen wird die beiden jedoch in ihrem Leben nie ganz loslassen – das bestätigt auch Seelsorgerin Christine Kaier. Sie sagt aber auch: Der Schmerz kann weniger werden. Seit der ersten Diagnose ist Betty in Therapie und hat außerdem ungefähr ein Jahr nach der Geburt eine achtwöchige Reha zur Trauerbewältigung gemacht. Die Reha möchte auch Stefan so bald wie möglich in Anspruch nehmen, nachdem er gemerkt hat, wie sehr sie Betty geholfen hat. „Ich weiß ja noch, wie ich vor der Geburt war“, sagt er nachdenklich. Er hätte sich seitdem in seinem Wesen verändert.
Nicht nur für ihre Trauerbewältigung sind sie dankbar für die Bilder, sondern auch wegen Mattheo, der mit dem Wissen aufwachsen soll, dass er eine Zwillingsschwester gehabt hat. Deswegen hängen die Erinnerungen an sie auch gut sichtbar bei ihm im Kinderzimmer.
Für Thomas selbst sind die Bilder allerdings nicht das Wichtigste. „Für mich ist es noch wichtiger, die Eltern ein Stück von ihrem schwierigen Weg zu begleiten und ihnen einen Schubser zu geben, sich von ihrem Kind zu verabschieden“, erklärt Thomas. Seelsorgerin Christine Kaier gibt ihm da recht:
Doch teilweise musste Thomas auch erfahren, dass einige Eltern seine Hilfe ablehnten. Er vermutet, dass es manchmal die Krankenhäuser sind, die die Organisation informieren, ohne vorher das Einverständnis der Eltern einzuholen. Thomas ist ein Elternpaar besonders im Gedächtnis geblieben, das sich noch nicht einmal traute, das verstorbene Baby anzuschauen. Er fotografierte das Kind dann ohne Eltern – eine Situation, die er als sehr kalt beschreibt. Jeder seiner bisher 13 Einsätze war anders und doch spiegeln sie nur einen Bruchteil der Erfahrungen wider, die die Fotografen bei „Dein Sternenkind“ seit der Gründung gemacht haben.
Zum Abschluss bringt Thomas seine fertigen Bilder gerne persönlich bei den Eltern vorbei, um sicher zu gehen, dass diese auch ankommen – so auch bei Betty und Stefan. Bevor er klingelt, hofft er kurz, dass niemand aufmacht und er die Bilder in den Briefkasten werfen kann. Als er jedoch von Stefan mit einer Umarmung begrüßt wird, ist seine Freude umso größer. Und er kann die Frage stellen, die ihm schon die ganze Zeit auf der Seele gebrannt hat: wie lange die kleine Marleen letztendlich gelebt hat. Die Antwort: Erst nach viereinhalb Stunden ist sie im Brutkasten neben ihrem Bruder gestorben. „Eigentlich hätte sie nicht leben sollen. Aber die Marleen wusste das nicht und hat es trotzdem gemacht!“, lächelt er.