„Europa befand sich in einem Zustand, der für uns heute unvorstellbar ist.“
Von Erzfeinden zu Freunden
Margareta Schmidt, Jahrgang 1927, lebt seit ihrer Geburt in der Kleinstadt Offenburg im Südwesten Deutschlands. 20 Minuten von der französischen Grenze entfernt ist die Nähe zu Frankreich deutlich spürbar. In Margaretas badischem Dialekt lassen sich einige ursprünglich französische Wörter ausmachen. Sie kann sich gut an die Zeit erinnern, als ihr Nachbarland noch der Feind war: an die Zeiten des zweiten Weltkrieges und der französischen Besatzung.
Während der Besatzungszeit in Südwestdeutschland gingen die Franzosen mit einem „extremen Kontrollbedürfnis und dem Drang der Entnazifizierung vor“. So beschreibt Stefanie Woite-Wehle, Leiterin des Europe Direct Informationszentums in Stuttgart, die damalige Situation.
Einsicht nach der Stunde Null
Auf ein völlig zerstörtes Europa folgte die Einsicht, dass es nicht weitergehen kann mit dem ständigen, gegenseitigen Bekriegen. Woite-Wehle erinnert dabei an die Wurzeln der deutsch-französischen Beziehungen: „Nie war hier eine reine Feindschaft. Stets gab es die Faszination an der Kultur und der Politik des jeweils anderen.“ Sie nennt die Kriegs- und Besatzungszeit auch als eine Chance, dem Feind auf ganz andere Weise zu begegnen. Neben Kontrolle und Macht fanden hier Begegnungen statt, in denen die Menschen lernten, dass der andere nicht zwangsläufig böse ist.
Auch Margareta hat diese Erfahrungen mit der französischen Besatzung gemacht. „Es hat böse Menschen gegeben, aber auch gute. So wie überall“, sagt sie. Erst bei gezieltem Nachfragen berichtet die Offenburgerin von negativen Erlebnissen. Sie erzählt von Vergewaltigungen, Plünderungen und der Ausgangssperre nach 19 Uhr. Lebendig ist die Erinnerung an einen Abend in ihrer Kindheit, an dem ihre Familie vollkommen still im Wohnzimmer saß, während französische Soldaten ein Schwein aus dem Stall stahlen. Den Fotoapparat ihres Bruders hat die Familie vor dem Eintreffen der Franzosen im Garten vergraben, allerdings nie wiedergefunden.
Nach einiger Zeit näherten sich Besatzer und Bevölkerung einander an, die strengen Auflagen wurden gelockert. Doch selbst Margaretas Tochter berichtet, dass sie als Kind in den 1960er Jahren in der Nähe der französischen Kaserne noch ein mulmiges Gefühl hatte. Einige Jahrzehnte später ist aus der Kaserne ein Kulturzentrum geworden, welches Margaretas Enkel für den Musikunterricht besuchen.
Beginn der Aussöhnung im Kleinen
Die negativen Erlebnisse der Besatzungszeit scheinen für Margareta in den Hintergrund geraten zu sein. Viel lieber teilt sie die Erinnerungen ihres Ehemannes Eduard.
Er wurde 1944 in den Kriegsdienst eingezogen und lebte bis 1948 als Kriegsgefangener auf einem Bauernhof in Marseille. Dabei betont Margareta immer wieder, wie gut es ihrem Ehemann damals bei Familie Royère in Frankreich ging.
Stefanie Woite-Wehle bewertet die Bereitschaft der Franzosen, den Deutschen nach dem Krieg die Hände zu reichen, als große Leistung. Die promovierte Historikerin weist auf die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankeich hin. Durch viele Begegnungen ist es gelungen, die Völker einander näherzubringen. Bewegt spricht sie über die Versöhnung der beiden Länder. „Die Überwindung von Feindschaft ist eines der schwierigsten Dinge überhaupt. Es ist eine unglaubliche Entwicklung, die in den letzten 70 Jahren stattgefunden hat.“
55 Jahre deutsch-französische Freundschaft
Mit dem Élysée-Vertrag legten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1963 den Grundstein für die Freundschaft. Sie vereinbarten eine enge Kooperation und regelmäßige Treffen der Regierungen. Zum Abbau von Vorurteilen wurde das deutsch-französische Jugendwerk gegründet. Gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird die deutsch-französische Zusammenarbeit im Jubiläumsjahr 2018 vertieft.
Angefangen hat die Annäherung Deutschlands und Frankreichs mit Einzelpersonen wie Familie Schmidt. Nachdem Eduard Schmidt aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, blieb die Freundschaft zur französischen Familie Royère weiterhin bestehen. Regelmäßig tauschten sie Briefe aus und besuchten sich gegenseitig. Nach dem Krieg waren Deutsche in Frankreich nicht willkommen und der Besuch gestaltete sich schwierig. Margareta erzählt, wie sich die beiden Familien in Straßburg an der deutsch-französischen Grenze getroffen haben.
Gerührt berichtet Margareta von einem Besuch in Frankreich einige Jahre später. Zu Weihnachten hatte Familie Schmidt eine kleine Tanne nach Frankreich gesendet. Als sie im Mai darauf Marseille besuchten, zeigte ihnen Familie Royère stolz die Tanne. Diese stand, mittlerweile völlig ohne Nadeln, noch immer auf dem Nachttisch im Schlafzimmer. „So haben sie die Tanne aus dem Schwarzwald in Ehren gehalten“, erzählt sie mit einem Lächeln im Gesicht. Margareta spricht gerne über Familie Royère und ihr herzliches Verhältnis. Über die Jahre haben sie sich viele Briefe geschrieben. Nach dem Tod der Eigentümerin des Bauernhofes, Simone Royère, hatten die Familien nur noch wenig Kontakt. Den letzten Brief schrieb Margareta 1999, nachdem Eduard gestorben war.
An die Freundschaft erinnern zahlreiche Fotos und Briefe, die Margareta sorgfältig aufbewahrt.
Durch die Briefe zieht sich der Wunsch der beiden Familien über den fortdauernden Frieden ihrer beiden Länder. In einem der letzten Briefe aus dem Jahr 1990 schreibt Familie Royère: „Opa würde sich freuen, wenn er noch erlebt hätte, wie nahe sich die beiden Länder heute stehen.“
„Wer weiß, was noch kommt“, schrieben sie damals: vor der Gründung der Europäischen Union, vor der Einführung des Euros und bevor eine Tramstrecke über den Rhein gebaut wurde, an dessen Ufer Margareta vor 70 Jahren ihren französischen Freunden über den Fluss hinweg zugewunken hatte.