„Wenn der raus ist, dann hab ich den vergessen.“
Wenn die Rente nicht genügt
Die Tür geht auf und da steht sie. Ein freundliches Lächeln, ein fester Händedruck. So empfängt sie uns in ihrer vorübergehenden Wohnung in Stuttgart. Ihren echten Namen verrät sie uns nicht, aber wir dürfen sie Ilse nennen. Ilse ist stark geschminkt und bis auf ein schwarzes Satin-Negligé mit tiefem Ausschnitt und türkis-blauen Pumps unbekleidet. Ihre großen Brüste sind nur knapp bedeckt. Gefunden haben wir Ilse auf einem Internetportal. Warum sie nur eine kurze Zeit hier in der Stadt sein wird, hat einen ganz bestimmten Grund: Ilse ist Prostituierte. Und das mit 71 Jahren. Unter dem Pseudonym ‚Kuschelbusen Omi‘ bietet sie auf einschlägigen Portalen ihre Dienste an. Kunden können einfach bei ihr anrufen, in verschiedenen Foren der Szene teilt sie mit, wo sie sich gerade befindet. Seit 15 Jahren reist sie so durch ganz Deutschland, jede Woche eine andere Stadt und eine neue Bleibe. Fotos dürfen wir keine machen, weder von ihr, noch von der Wohnung. Aber wir dürfen ihre Stimme aufnehmen.
Ilse bittet uns, im Schlafzimmer Platz zu nehmen. Die Einrichtung ist einfach, die Wände kahl. Es gibt keine Bilder, keine persönlichen Gegenstände, die die Frau hinter dem Make-up zeigen.
Sie räumt ein Sofa mit Zebramuster für uns frei, setzt sich breitbeinig auf das heruntergekommene Bett gegenüber und steckt sich eine Zigarette an. Im Hintergrund flackert der Fernseher.
Ilse ist schon ihr ganzes Leben im Rotlicht-Milieu tätig. „Früher war ich hauptsächlich in Laufhäusern in der ganzen Republik unterwegs. Angefangen hab‘ ich auf dem Straßenstrich, dann Laufhaus und jetzt Wohnungsprostitution“, erzählt sie. Ihre Tage beginnen ganz gewöhnlich: In der Früh geht sie einkaufen, zur Post und was sonst so anfällt. Ab neun ist sie per Handy erreichbar, ihre Termine vereinbart sie ab elf. Dann wartet sie bis 23 Uhr.
Dass Rentner nicht ausreichend Geld zur Verfügung haben, ist keine Seltenheit mehr. Viele sehen sich gezwungen, zusätzliche Einkünfte zu suchen, auch im Rotlichtmilieu. In Berlin gibt es bereits Bordelle, die ausschließlich Frauen in höherem Alter führen. Mit Interviews waren sie nicht einverstanden, allerdings erfuhren wir, dass einige den Job nur ausüben, da sie ebenfalls ohne Zusatzeinkommen nicht überleben könnten. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung könnte es 2036 dazu kommen, dass ein Fünftel der 67-Jährigen mit zu wenig Rente auskommen muss. Heute liegt der Wert bei 16 Prozent. Besonders alleinerziehende Mütter machen dabei einen großen Anteil aus.
Die Männer, die Ilse besuchen, kommen aus verschiedenen Gründen zu ihr und haben unterschiedliche Bedürfnisse. Sie sind zwischen 20 und 80 Jahren alt, sagt sie. Manche möchten einfach nur reden, andere stehen auf Rollen- oder Fesselspiele. Wer da kommt, interessiert Ilse nicht: „Wenn der raus ist, dann hab ich den vergessen. Außer er war außergewöhnlich spendabel oder es ist irgendetwas vorgefallen. Aber ich merke mir keine Namen oder Gesichter. Mich interessiert das Geld und sonst gar nichts.“ Ein kurzes Telefonat muss ausreichen, um den Kunden und seine Absichten einschätzen zu können. Nicht immer lag sie mit ihrem Instinkt richtig – schon zwei Mal wurde sie überfallen.
20 Jahre, dumm und naiv
Einen anderen Beruf hat Ilse nie ausgeübt. Sie wollte Dolmetscherin werden, bekam aber früh zwei Kinder und brauchte Geld. Priorität war es immer, ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. An eine Ausbildung wollte sie nun keinen Gedanken mehr verschwenden. Also verkaufte sie sich selbst. „Der Lebensgefährte meiner Mutter hat mir damals weisgemacht, dass man da viel Geld verdienen kann und dass ich das machen soll. Und dann hab ich's gemacht“, beginnt sie zu erzählen und richtet ihre dunkelbraune Perücke. „Ich war 20 Jahre alt, dumm, naiv und mit zwei kleinen Kindern.“
Die Prostitution gab ihr die Möglichkeit, genügend Geld zu verdienen, aber auch für ihre Kinder da zu sein. Nachts stand sie in Bordellen, wartete auf den nächsten Gast und tagsüber hatte sie Zeit für die Aufgaben einer Mutter.
Dieses Doppelleben zu führen war nicht immer einfach. Ihr Atem stockt, sie nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Als ihre Tochter und ihr Sohn von ihren nächtlichen Ausflügen erfuhren, reagierten diese abweisend. „Sie waren im Teenager-Alter und dachten nun, man müsse nicht mehr auf mich hören, weil ich ja nur 'ne Prostituierte bin. Zwei Jahre lang war es ganz schwierig.“
Heute hat sie ein gutes Verhältnis zu Ihnen. Dass sie eine richtige Ausbildung und eine sichere Zukunft haben, war ihr wichtig. Mit dem Geld, das sie nun zusätzlich verdient, möchte sie vor allem ihre Tochter und ihre drei Enkel unterstützen. Ohne eine weitere Einkommensquelle wäre dies nicht möglich.
„Wie soll man denn mit 231 Euro Rente im Monat überleben!? Davon kann ich noch nicht mal meine Krankenkasse zahlen!“
Auf die Frage, warum sie in ihrem Alter immer noch arbeite, findet sie klare Worte: „Ich mache das mit der Prostitution nicht nebenbei, sondern hauptberuflich, ich muss ja von irgendwas leben!“
Sie steckt sich eine weitere Zigarette an. Ilses Stimme bebt, sie wirkt sauer, möchte ihre Kritik gegenüber dem Rentensystem loswerden. „Ich finde es falsch, dass du als Selbstständige nirgends einzahlen konntest, weil dann würde ich heute anders dastehen.“ Privat angelegt oder vorgesorgt hat die Seniorin nicht.
Sind Prostituierte angestellt, gelten die gleichen Rechte und Pflichten wie bei jedem anderen Arbeitnehmer. Seit 2017 können auch selbstständige Sexarbeiter/innen dank dem Prostitutionsschutzgesetz in einzelne Zweige der Sozialversicherung, wie die Rente, einzahlen. Für Ilse kommt diese Regelung leider zu spät. Sie ist auf das Geld angewiesen.
Ilse drückt ihre Zigarette aus. Finanzielle Unterstützung von Familie oder Freunden bekam sie nie. Wollte sie aber auch nicht. Sie kümmert sich gerne um sich selbst. Auch wenn das bedeutet, Prostituierte zu sein. „Das ist ein ganz normaler Job wie jeder andere“, betont sie immer wieder. „Das ist reine Geld-Sache.“ Trotzdem kann Ilse noch nicht vollständig in den Ruhestand gehen. Aber sie weiß genau, wie lange sie noch arbeiten wird: vier Jahre. „Danach hab ich mir genug zusammengespart, um auch ohne Hartz IV einen schönen Lebensabend verbringen zu können.“