Notruf 112 – und dann?
Es ist kurz nach 9 Uhr. Im großen Büro ist leises Stimmengewirr zu hören, ab und zu rührt jemand in einer Kaffeetasse. Einige Mitarbeiter tragen Kopfhörer und sprechen mit Anrufern. Es wirkt alles viel entspannter als erst erwartet. „Heute ist es recht ruhig. Normalerweise geht’s um die Uhrzeit verstärkt ab. Nach neun ist meistens sehr viel los“, erklärt mir Martin Heinrichs. Seit 28 Jahren arbeitet er bereits als Leitstellendisponent auf der "Integrierten Leitstelle" in Stuttgart, seit 37 Jahren ist er beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) tätig.
Wenn man den Raum betritt, fällt zuerst der riesige Bildschirm an der Wand ins Auge. Er zeigt detaillierte Statistiken und Überwachungsaufnahmen aus den Stuttgarter Tunnels. Ähnlich komplex sieht auch Martin Heinrichs Arbeitsplatz aus: Sechs Bildschirme und ein großes Touchdisplay helfen ihm bei seiner Tätigkeit.
Ein Notruf geht ein
Per Touchdisplay nimmt der Leitstellendisponent das Telefonat entgegen, auf einem Bildschirm öffnet sich die Auftragsmaske, in die er Daten über den Einsatz einträgt. Als erstes den Einsatzort. Um das richtige Rettungsmittel zu schicken, muss der Disponent herausfinden, was dem Patienten fehlt. Hierfür braucht man Fingerspitzengefühl und Wissen schildert Heinrichs: „Ich muss mir mit kurzen, prägnanten Fragen ein Bild vom Zustand des Patienten machen. Dabei bin ich sehr darauf angewiesen, dass die Leute meine Fragen beantworten. Das ist manchmal schwierig, wenn sie sagen: ‚Jetzt fragen Sie nicht so viel, kommen Sie endlich!’ Da muss man den Leuten klarmachen, dass ich schon wissen muss, was einem Patienten fehlt, damit die richtige Hilfe kommt. Und das ist eben schwierig, wenn die Leute aufgeregt sind.“
Anhand der Angaben des Anrufers wählt Martin Heinrichs einen Code aus, das sogenannte Einsatzstichwort. Daraufhin tauchen passende Erste-Hilfe-Anweisungen auf. In manchen Fällen ist sogar eine direkte Reanimation nötig, bei der der Leitstellendisponent den Anrufer am Telefon bis zum Eintreffen der Rettungskräfte unterstützt.
Doch wie reagiert man als Anrufer am besten? Muss man in einem Atemzug alle W-Fragen beantworten? Martin Heinrichs hält das nicht für nötig: „Man kann es machen. Aber ich sag den Leuten immer: Hör einfach zu. Der am anderen Ende der Leitung fragt dich bestimmte Sachen und auf die antwortest du einfach.“ Man müsse versuchen, den Leuten die Angst zu nehmen.
Martin Heinrichs entscheidet selbst, welches Rettungsmittel geeignet ist. Auf dem Bildschirm sieht er alle geplanten Fahrten auf einen Blick. Der Computer macht auch Vorschläge, welches Fahrzeug am schnellsten am Einsatzort sein kann. „Man muss es aber immer wieder hinterfragen. Ortskenntnis braucht man bei diesem G’schäft“, betont Martin Heinrichs. Manchmal sei ein anderer Rettungswagen doch schneller am Ziel oder man sehe, dass in absehbarer Zeit ein Wagen frei werde. Wenn sich der Disponent für ein Fahrzeug entschieden hat, wählt er es per Knopfdruck aus. Anschließend werden die Einsatzdaten an die Mitarbeiter im Rettungsdienst weitergeleitet.
Das Einsatzteam rückt aus
Einer dieser Mitarbeiter ist Horst Esslinger. Seit 37 Jahren ist er beim DRK auf der Wache Stuttgart Mitte als Notfallsanitäter beschäftigt. Zunächst hat man in der größten Rettungswache Baden-Württembergs fast das Gefühl, in einem normalen Bürogebäude gelandet zu sein. Bis man die Arbeitskleidung der Einsatzkräfte sieht und die Computerstimme hört, die hin und wieder Einsätze ankündigt. Falls sich Horst Esslinger auf der Hauptrettungswache befindet, hört er die Alarmierung über die Computerstimme aus der Haussprechanlage. Fast zeitgleich springt sein Funkmeldeempfänger an und er bekommt eine SMS aufs Handy. Auch auf das Display im Fahrzeug werden die Daten übermittelt. Dann eilen er und das Team in die 2000 m2 große Fahrzeughalle im Untergeschoss.
Arbeitsalltag in Stuttgart
Normalerweise ist in Stuttgart aber so viel los, dass Horst Esslinger und seine Kollegen nach einem Einsatz nicht zur Wache zurückkehren, sondern direkt zum nächsten Notfall fahren. Der wichtigste Weg, über einen Notfall informiert zu werden, ist für ihn daher das Display im Auto. Da das Einsatzstichwort stets mit übermittelt wird, wissen die Retter direkt, um was es sich grob handelt – zum Beispiel um eine Herz-Kreislauf-Erkrankung oder einen Verkehrsunfall. Sobald sie sich auf den Weg machen, wählen die Retter auf dem Funkgerät den Status 3. Es gibt verschiedene Statusmeldungen, die der Leitstelle Auskunft über den Stand der Dinge geben.
Wie viele Einsätze Horst Esslinger am Tag hat, ist unterschiedlich. „Man rechnet ungefähr einen Einsatz pro Stunde, weil in Stuttgart die Wege nicht so weit sind“, erklärt er. Zwischen sechs und acht Einsätze in den acht Arbeitsstunden habe man schon. Klingt anstrengend – doch Horst Esslinger und Martin Heinrichs sind vor allem froh, dass ihre Schichten seit etwas mehr als einem Jahr nicht mehr zwölf Stunden dauern.
Besonders in Stuttgart gibt es in letzter Zeit Schwierigkeiten auf dem Weg zum Einsatzort. Durch die ständig wechselnde Straßenführung kommt es zu Problemen und auf den Dauerbaustellen passieren immer wieder Unfälle, zu denen sich manchmal nur schwer Zufahrtswege finden lassen. Doch Horst Esslinger und seine Kollegen finden ihren Weg. Die sogenannte Hilfsfrist besagt, dass ein Rettungswagen in 95 Prozent der Fälle möglichst nach zehn, maximal nach einer viertel Stunde am Einsatzort sein muss. In Stuttgart wird dies in etwa 96 Prozent aller Fälle eingehalten.
Und wenn Herr Esslinger auf dem Funkgerät schließlich Status 4 wählt, um bekanntzugeben, dass er am Einsatzort eingetroffen ist, klingelt bei Herrn Heinrichs längst wieder das Telefon. Kaffeetassen werden beiseite gestellt und Kopfhörer aufgesetzt, um den Stuttgarter Bürgern erneut das Leben zu retten.