Ein Ort voller Geschichte(n)
S-Bahn-Station Stuttgart Feuersee: Sobald man die Treppen hinter sich gebracht hat, fällt zuerst die riesige Kirche ins Auge. Dann stellt sich so mancher schon die ersten Fragen: Wo ist eigentlich die Kirchturmspitze? Und woher hat der Feuersee seinen Namen? Um diese Fragen zu beantworten, hat das Team von edit. einige Passanten am Feuersee befragt – und hat festgestellt, dass erstaunlich viele die Antwort kennen. Nähere Auskünfte liefern außerdem das Stadtarchiv Stuttgart und Frau Stein*, eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Gemeinde.
Eine Reise ins 18. Jahrhundert
Der Feuersee hat einige Jahre hinter sich: Die Ausgrabungen begannen 1701. In einigen historischen Artikeln ist auch von 1707 die Rede. Damals war der See dreiecksförmig und wurde als Löschsee und zur Bewässerung der Felder genutzt. Doch schnell kam es zu Problemen: Der Feuersee trocknete aus. Als man eine neue Wasserleitung anlegte, klagten Mühlenbesitzer, dass ihnen Wasser weggenommen würde. Erst einige Jahre später liefen fünf Leitungen in die obere Vorstadt. 1751 speiste der See zehn Wasserstuben für Notfälle.
Als Löschsee dient der Feuersee schon lange nicht mehr. Lediglich im Zweiten Weltkrieg überlegte man, ihn als Reservoir beim Versagen der Wasserleitungen zu nutzen.
Nicht mehr das, was er mal war
Die größte Veränderung des Sees fand in den 1860er-Jahren statt. Da die Bewohnerzahl explodierte, erweiterte man die Stadt und unterzog den Feuersee einer Schönheitskur. Man legte eine Halbinsel für die Johanneskirche an und mit Beginn des Kirchenbaus 1866 erhielt der Feuersee seine heutige rechteckige Form. 1876 war die Kirche fertig. Der See diente eher dem Freizeitvergnügen: Man hatte sogar die Eisgewinnung aus dem Feuersee verboten, um ihn im Winter komplett als Eisbahn nutzen zu können. Lange Zeit war er die einzige Schlittschuhbahn in Stuttgart.
Heute hängt ein Schild am Geländer, das das Betreten der Eisfläche verbietet. Ein junger Familienvater erzählt trotzdem davon, dass er im Winter gerne übers Eis schlittert.
Doch was bietet der Feuersee noch? Den Anwohnern ist sicherlich bekannt, dass sich bei wärmeren Temperaturen hin und wieder Wasserschildkröten blicken lassen. Sie haben aus traurigem Grund ihr Zuhause am Feuersee gefunden: Sie wurden von ihren Besitzern ausgesetzt. Die Feuersee-Besucher hingegen erfreuen sich an ihrem Anblick. Laut Frau Stein sind sie ein wahres Highlight: „Wenn die Leute am Sonntag hierherkommen, heißt es: ‚Hast du schon gesehen? Die Schildkröten sind wieder da!’“ Zudem ist der Feuersee Heimat für viele Fischarten. Jedes zweite Jahr werden sie abgefischt und auf die Gewässer in Stuttgart verteilt.
Doch nicht nur in tierischer Hinsicht hat der Feuersee einiges zu bieten: Wer Hunger hat, kann das Restaurant „Rote Kapelle“ besuchen. Der Name wurde gewählt, um an Widerstandskämpfer im Dritten Reich zu erinnern.
Nicht zu vergessen ist natürlich auch heute noch die Johanneskirche. Apropos Kirche: Was ist denn nun mit der Spitze?
Ein Mahnmal und mehr
Auch hier liegt der Schlüssel im Zweiten Weltkrieg. Die Kirche wurde durch Bomben der Alliierten beschädigt und nach dem Krieg wiederaufgebaut. Die Turmspitze ließ man weg – als Mahnmal gegen den Krieg. Doch das ist nicht der einzige Grund: „In Wirklichkeit hat die Basis im Krieg durch die Erschütterung gelitten und trägt den Turm nicht mehr“, verrät Frau Stein. Dem Charme der Kirche tut das offenbar keinen Abbruch. Immer noch ist sie beispielsweise beliebter Schauplatz für Trauungen. Die Beliebtheit geht so weit, dass die Kirchengemeinde dem Heiratswahn Einhalt gebieten muss. Heute dürfen sich in der Johanneskirche nur noch Paare trauen lassen, die eine familiäre Verbindung zum Feuersee haben. „Es hat massiv zugenommen, dass Leute bloß wegen der Aussicht und dem schönen Bild, das man nachher machen kann, hierherkommen. Und das ist immer eine Zusatzarbeit“, erklärt die Gemeindemitarbeiterin den Entschluss.
Das Leute nur für schöne Fotos zur Johanneskirche kommen, ist aber nicht das Schlimmste, was passiert. Schon lange ist die Kirche nicht mehr jeden Tag geöffnet, um Menschen daran zu hindern, dort ihrer Zerstörungswut nachzugehen. So habe laut Frau Stein einmal ein Betrunkener die Bibel mitgenommen und sie in einem Streit als Schlagwerkzeug benutzt. Und am Feuerseeplatz beschweren sich Passanten über Müll im See und Graffiti an den Treppenstufen. Trotzdem entpuppen sich die Besucher als Feuersee-Fans – unabhängig von Alter oder Herkunft.
Der Feuersee ist ein Treffpunkt für verschiedenste Menschen – vom schwäbischen Flaschensammler über lernende Schüler und irische Touristen bis hin zum Hundebesitzer ist alles dabei. Die meisten gehen spazieren, füttern Enten oder führen den Hund Gassi. Das Touristenpaar aus Irland ist hingegen durch Zufall auf den See gestoßen und legt auf den Treppenstufen eine Pause ein. Eine junge Brasilianerin bringt ihre Liebsten zum Feuersee, um ihnen die Architektur und die Atmosphäre zu zeigen. Die Passanten posieren fröhlich für Fotos. Eine gewisse Magie herrscht an diesem Ort.
Frau Stein von der Gemeinde ist der Ansicht, dass die Anlage um die Kirche bewusst als „Verschnauf- und Erholungsfläche“ gestaltet wurde. Dies bestätigen auch die Passanten. Alle schwärmen von der grünen Oase mitten in der Stadt. Man kann eine Pause machen, sich mit Freunden treffen oder beim alljährlichen Feuerseefest Party machen. Auch als Auszeit nach Feierabend wird der Feuersee gerne genutzt. So eben auch heute.
Obwohl die Bedeutung des Feuersees nicht mehr dieselbe wie im 18. Jahrhundert ist, ist er immer noch unglaublich wichtig für den Stuttgarter Westen – als Grünfläche, Ruhepol, Treffpunkt und alles, was den Leuten sonst noch so einfällt.
Und wenn man schließlich die Treppen runter zur S-Bahn-Station geht, nimmt man nicht nur eine Menge Wissen, sondern auch schöne Eindrücke und tolle Begegnungen mit.
* Name von der Redaktion geändert