Investigativ

„Mental kann es überfordernd sein“

Christoph Koettl vor einer Bildcollage.
Der Journalist Christoph Köttl hat es weit gebracht: Bei der New York Times recherchiert der Österreicher zu den großen Krisen und Konflikten unserer Zeit.
28. Juni 2023
Christoph Köttl recherchiert für die New York Times zu Kriegsverbrechen auf dem Gebiet der Ukraine, Polizeigewalt in den USA und Zwangslager in China - alles, indem er Satellitenbilder auswertet und sie mit anderen Quellen abgleicht.

Christoph Köttl ist ein Journalist in der Visual-Investigations-Abteilung der New York Times. Das X-köpfige Team wertet vor allem Satellitenbilder und Daten aus den sozialen Medien aus und hat für seine Arbeit zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter zwei Pulitzer-Preise und einen Emmy.

Eines deiner aktuellsten Projekte ist die Recherche zum Staudammbruch in der Ukraine. Was waren die ersten Arbeitsschritte?

Als Erstes siehst du die Videos und fragst dich: Ist das der richtige Staudamm? Normalerweise prüfen wir als nächstes, ob es ein neues oder altes Video ist. Das fällt in diesem Fall weg, weil der Staudamm vorher noch nie zusammengebrochen ist. Die ersten Videos wurden alle in der Nacht aufgenommen. Das hat alles zusammengepasst. Dann geht es zum nächsten Schritt: Was sehen wir eigentlich in den Videos? Da ist nicht nur eine Schleuse gebrochen, sondern da ist der halbe Damm weg. Es muss also etwas Größeres passiert sein. Um elf Uhr vormittags kamen dann die Satellitenbilder rein, so konnten wir uns ein Gesamtbild machen. Da konnte man dann sehen, dass hier schon eine Überschwemmung ist und vier Kilometer weiter unten schon der Strand und ein paar Häuser überschwemmt sind. 

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Woher kommen solche Satellitenbilder?

Es gibt Webseiten, auf denen du das recherchieren kannst. Da steht dann zum Beispiel P1 und das heißt Pleiades, das Bild kommt also von der französischen Firma Airbus. Ich schreibe immer sofort die Betreiber dieser Satelliten an. Danach kommen dann die Interviews und weiteren Recherchen. In den ersten Wochen einer Recherche schaue ich jeden Tag, so wie vor diesem Gespräch in der Früh, wo die neuen Satellitenbilder sind. In den vergangenen drei Tagen war es bewölkt und man konnte leider nichts erkennen. Heute gab es das erste Bild, bei dem es nicht bewölkt war. An einem Tag sieht man plötzlich,  dass das Wasser runter geht und ich habe die Möglichkeit zu checken, ob man jetzt etwas mehr sieht oder nicht, weil das Wasser immer noch so hoch ist. Aber in zwei Tagen ist das Wasser noch weiter unten und man sieht wieder mehr.

 In der Suchmaske der Website kann man eingeben, für welche Koordinaten man ein aktuelles Satellitenbild sucht. Hier zu sehen: die Karte des Kachowka-Staudamms von Google Maps als Referenz.
In der Suchmaske der Website kann man eingeben, für welche Koordinaten man ein aktuelles Satellitenbild sucht. Hier zu sehen: die Karte des Kachowka-Staudamms von Google Maps als Referenz.
Im nächsten Schritt wird dann eine verpixelte Vorschau des Satelliten-Bildes angezeigt. Es wird auch angegeben, wie bewölkt es bei der jeweiligen Aufnahme war, denn: Nur eine Aufnahme mit guter Sicht kann für die Verifikation überhaupt genutzt werden.
Im nächsten Schritt wird dann eine verpixelte Vorschau des Satelliten-Bildes angezeigt. Es wird auch angegeben, wie bewölkt es bei der jeweiligen Aufnahme war, denn: Nur eine Aufnahme mit guter Sicht kann für die Verifikation überhaupt genutzt werden.

Auf welche Herausforderungen stößt man bei einer solchen Recherche und wie schafft man es, nicht auf Propaganda- oder Fake-Videos reinzufallen?

Oft kommt man zu einem vorschnellen Schluss, wie dass die Russen den Damm gesprengt haben. Aber wir wollen den Beweis dafür bringen. Zu dem Beweis kommst du eben nur, wenn du eine breite Frage stellst.

Wenn ich versuche zu beweisen, dass die Russen diesen Damm zerstört haben, dann schaue ich nur nach Beweisen, die in diese These reinpassen und alles andere ignoriere ich. Wenn ich mir stattdessen aber die Frage stelle: „Was ist mit dem Damm passiert?“, dann habe ich einen viel breiteren Blick. Ich schaue mir auch Beweise an, die auf die Ukraine deuten würden. Oder vielleicht war das einfach ein Unfall.

In unserem Kopf kommen natürlich trotzdem Gedanken auf, wie: „Na ja, es waren wahrscheinlich die Russen, die haben die Ukraine angegriffen.“ Es ist schwierig, aus diesem Denken rauszukommen. Aber als Journalist musst du wirklich auf beide Seiten schauen. Also schauen wir nicht  nur ein Video an, sondern suchen nach mehreren Videos, die das Ganze aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen. Dann fällt auch auf, wenn ich etwas falsch interpretiert habe. Auch bei Satellitenbildern ist es wichtig, nicht nur ein Satellitenbild anzuschauen, sondern eher fünf. Beim Damm hat es zum Beispiel so ausgesehen, als ob bei einer Stütze etwas gebrochen wäre. Dann habe ich drei andere Bilder angeschaut und gesehen, dass es eigentlich nur der Schatten von der Stütze war.

Zwei Tage nach unserem Gespräch mit Christoph Köttl hat die New York Times einen investigativen Beitrag veröffentlicht, in dem die Ereignisse vom 6. Juni 2023 rekonstruiert wurden. An diesem Tag wurden die Staumauer und das Wasserkraftwerk am Kachowkaer Stausee während des russisch-ukrainischen Krieges zerstört. Für die Recherche wurden Fotos und Videos, Infrarot-Satellitenbilder, seismische Messungen und mehrere Befragungen von Experten ausgewertet. Am Ende des Beitrages wurde die Verantwortung für die Zerstörung der Staumauer Russland zugeschrieben.

Welche Fähigkeiten muss man mitbringen, um Teil eines Visual Investigations Teams zu sein?

Man darf nicht schüchtern sein. Denn man muss wirklich mit den Leuten reden. Aber darin bin ich selbst ziemlich schlecht und denke mir immer, dass darin ein bisschen besser werden sollte. Es wird im Moment so viel über neue Technologien wie Künstliche Intelligenz gesprochen. Aber all das kann den traditionellen Journalismus nicht ersetzen. Vielleicht recherchiere ich eine Person auf Twitter oder Facebook und dann kann ich einfach eine Nachricht schreiben: Können wir mal reden? Hast du noch mehr Videos? So bekommst du plötzlich exklusive Videos und das ist einfach sehr nützlich.

„All das kann den traditionellen Journalismus nicht ersetzen.“

Christoph Köttl

Du kommst aus einer kleinen Stadt in Österreich und hast es von dort bis in die USA in das renommierte Investigativ-Team der New York Times geschafft. Was sind deine Tipps? Wie kommen wir zur New York Times?

Wenn ich von meinem Lebensweg erzähle, hört sich das so an, als ob ich einen Plan gehabt hätte. Aber solche Dinge kann man nicht planen. Ich hatte ziemliches Glück. Es ist aber sehr hilfreich, wenn man genügend Erfahrung sammelt, Praktika macht oder freiwillig irgendwo mitarbeitet. Man kann sich ja gewisse Themen aussuchen, die einen selbst berühren oder am meisten interessieren und sich so ein bisschen eine Expertise aufbauen. Auch das regelmäßige Publizieren ist wichtig. 

Welche Stationen hattest du auf deinem Weg zur New York Times?

Los ging es vor 20 Jahren nach meinem Studium mit meinem Zivildienst beim Holocaust Museum in Washington. Danach wollte ich unbedingt zurück nach Washington und habe an einer amerikanischen Universität internationale Beziehungen studiert. Dann habe ich als Praktikant bei Amnesty International gearbeitet und hatte dort eine wirklich große Chance: Als ich dort anfing, plante Amnesty gerade ein neues Projekt zum Thema Satellitenbilder und Menschenrechte. Ich kam zum Vorstellungsgespräch und war quasi der Einzige, der schon mal von Satellitenbildern gehört hatte. 2007 hat es da noch niemanden gegeben, der sich mit so etwas beschäftigt hat. So habe ich mich dann ein wenig auf Satellitenbilder und die Verifizierung von Fotos und Videos spezialisiert und mir einen Namen gemacht. Dann bin ich zur New York Times gekommen. Mein Job im Visual-Investigations-Team ist mein erster im Journalismus.

Was bedeutet Visual Investigations überhaupt?

Visual Investigations, manchmal auch Open Source Investigation genannt, ist eine der neueren Methoden des Journalismus. Genutzt werden für die Recherche bei Visual-Investigations-Projekten Fotos und Videos aus den sozialen Netzwerken, aber auch beispielsweise Satellitenbilder. So können Ereignisse schnell rekonstruiert, eingeordnet und analysiert werden.

Bei Amnesty International hast du eher aktivistisch gearbeitet und bei der New York Times arbeitest du journalistisch. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind dir beim Wechsel vom Aktivismus zum Journalismus aufgefallen?

Bei Amnesty heißt es: Wir wollen etwas verändern. Im Journalismus ist es quasi dasselbe. Wir reden immer vom impact. Das bedeutet zum Beispiel, ob andere Medien unsere Themen aufgreifen.  Bei Amnesty gab es natürlich viele Aufgaben, die es im Journalismus nicht gibt, wie zum Beispiel Briefe schreiben und Lobby-Arbeit. Wir stellen als New York Times unsere Arbeit jetzt nicht im Kongress vor, sondern wir publizieren sie einfach. Bei Amnesty habe ich tolle Projekte gemacht, aber bei der New York Times konnte ich jetzt auch schon einige große Geschichten machen, die einfach einen riesigen Einfluss hatten. Ein Beispiel ist  unsere Geschichte zur Police Violence in Philadelphia, die wir vor drei Jahren gemacht haben. Wir haben die Geschichte um fünf in der Früh produziert. Um drei Uhr nachmittags hat die Stadt eine Pressekonferenz abgehalten und hat sich entschuldigt und Leute gefeuert. Einen solchen Einfluss zu haben ist natürlich schon etwas Besonderes.

 

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Zusätzlich hilft es extrem, wenn man eine Spezialisierung hat. In meinem Fall sind das die Satellitenbilder. Das heißt, ich bin für gewisse Geschichten besonders geeignet und für andere eher nicht. Wir arbeiten vor allem im Team und ergänzen uns. Man muss also auch ein guter Teamplayer sein.

In deinem Job verbringst du viel Zeit damit, dich mit den Krisen auf der Welt zu beschäftigen. Wie ist es, wenn man in seinem Alltag nur mit Krisen zu tun hat?

Auf der einen Seite ist es total spannend und interessant, weil man natürlich viel über verschiedene Länder und über die diversen Themen auf der Welt lernt. Mental kann es überfordernd sein, weil man ständig den News folgen muss. Aber das ist halt der Job als Journalist.

Wie geht man damit um, wenn man ständig mit schweren Inhalten konfrontiert wird?

Seit eineinhalb Jahren gehe ich zu einer Therapeutin und das ist sehr hilfreich. Sie hat jetzt nicht die eine Lösung für mich oder gibt mir Tipps. Es hilft einfach generell, mit jemandem über alles zu reden. Man muss schon auch aufpassen. Denn man sieht schlimme Sachen, hat den Druck zu publizieren und ist dann auch nervös. Mir ist es in letzter Zeit oft passiert, dass ich beim Arbeiten alles um mich vergesse. Ich bin dann so in der Arbeit drin, dass ich vergesse, zu essen und zu trinken. Das ist schlecht, denn man sollte sich wirklich Pausen nehmen. Wenn du müde bist, dann machst du Fehler. Man braucht einfach eine Balance. Als Ausgleich gehe ich in letzter Zeit viel Wandern und Radfahren, das hilft. Ansonsten unternehme ich auch viel mit anderen Leuten.

Wie siehst du den investigativen Journalismus in Deutschland und Europa?

Ich verfolge die Medien in Deutschland und Europa nicht sehr detailliert. Aber in Deutschland und Europa gibt es wirklich guten Investigativjournalismus. Bellingcat ist da eine führende Institution in diesem Bereich. Aber im Bereich Visual Investigations habe ich im deutschsprachigen Raum bisher noch nichts gesehen. Dabei gibt es einen riesigen Bedarf.

Dieses Interview fand am 14.06.2023 im Rahmen der edit.-Gesprächsreihe Investigativer Journalismus" statt. Auch das Publikum hatte die Möglichkeit Fragen zu stellen, die an einigen Stellen im Interview auftauchen.