Mundmalerei

Mundwerk

Lars Höllerer kann seine Staffelei nach oben und unten fahren und dreht die Leinwand mehrmals, um mit seinem Pinsel alle Ecken zu erreichen.
31. Jan. 2019

Lars Höllerer ist 49 Jahre alt und malt mit dem Mund. Der geborene Überlinger sitzt seit 27 Jahren im Rollstuhl. Mit gefasster Stimme erzählt er von dem Moment in seinem Leben, der alles verändert hat. 

Mit 21 Jahren kommt Lars auf seinem Motorrad vom Weg ab und prallt gegen einen Baum. An den Unfall kann er sich nicht mehr erinnern, nur durch Erzählungen weiß er, was passiert ist. Seine Freunde rufen nach Hilfe, ein Helikopter fliegt ihn nach Ravensburg in eine Klinik. Dort wacht Lars auf, kann nicht selbst atmen und nicht sprechen, geschweige denn sich bewegen. Über ihm stehen Menschen in weißen Gewändern. Er kann noch nicht verstehen, wo er ist und was das bedeutet. Lars ist durch den Sturz vom Hals abwärts gelähmt und spürt nichts mehr, außer Schmerzen. Eine Schocksituation, die alle Pläne für die Zukunft umschmeißt. Eine Lehre zum Bauzeichner kommt nicht mehr in Frage. 

In der Rehabilitationsklinik in Tübingen verbringt Lars anschließend zehn Monate. Dort wird er psychisch betreut und bekommt Physio- und Ergotherapie. Ein Leben in Abhängigkeit von Anderen und komplett gegenteilig zum vorherigen Lebensstil kann er sich nicht vorstellen. Der vorher so sportlich interessierte Lars kann seinen Hobbies plötzlich nicht mehr nachgehen. Aus der Verzweiflung heraus entsteht der Wunsch, das eigene Leben zu beenden und mit dem Rollstuhl in den Bodensee zu fahren. Glücklicherweise kommt es aber nie dazu. „Ich war in der Reha und hatte da keine Möglichkeit.“ Er versucht sich von den Einstellungen und Gedanken anderer inspirieren zu lassen. Sich mit der Situation abzufinden braucht jedoch mehrere Jahre, so Lars.

In der Klinik fängt er erstmals an mit seinem Mund zu malen. „Dort hat man mir den Pinsel in den Mund gesteckt und gesagt: Probier mal!“, erzählt er. Was anfangs Zeitvertreib ist, wird später zur Leidenschaft. Lars muss sich in Geduld üben und sich daran gewöhnen, dass er vieles nicht mehr so ausüben kann wie vor seinem Unfall. Trotz Misslingen gibt er aber nicht auf. Vor seinem Unfall malt er bereits ab und zu, etwa, wenn er ein günstiges Geschenk für ein Familienmitglied braucht. In seiner Zeit in Tübingen malt er fast täglich und wird immer besser. Das Malen hilft ihm, das Geschehene zu verarbeiten und wieder Gleichgewicht zu finden. Anschließend bringt er die Malerei in sein Zuhause in Überlingen mit, wo sich seine Familie sowie Zivis und Freiwillige um ihn kümmern. Anstatt ihn in ein Heim zu bringen, errichtet sein Vater einen behindertengerechten Anbau für ihn. Dort leistet Lars viel Eigenarbeit und malt, je nach Verfassung, meist mehrere Stunden am Tag.

Lars malt nicht nur mit seinem Mund, sondern steuert damit auch seinen elektrischen Rollstuhl.
Die meisten Bilder von Lars sind sehr bunt und fröhlich, obwohl er einen schweren Schicksalsschlag erlitten hat.
Lars verlängert reguläre Pinsel mit einem Aluminiumrohr und ergänzt sie auf einer Seite mit einem Gummistück, das er dann in den Mund nimmt.
Neben der Staffelei von Lars kommt auch der mundmalende Teddybär nicht ungeschoren davon.

Sechs Jahre nach seinem Unfall entscheidet er sich dazu, die freie Kunstakademie in Mühlhofen zu besuchen. In acht Semestern lernt er verschiedenste Techniken, die er bis heute anwendet. Inspirieren lässt er sich teils von Fotografien, teils von seiner eigenen Fantasie und seinen inneren Wünschen.

Von der Vereinigung der Mund- und Fußmalenden Künstler wird Lars entdeckt und 1999 als Stipendiat aufgenommen. Jahre später wird er assoziiertes Vollmitglied und erhält ein monatliches Festgehalt. Sein Hobby wird zu seinem Beruf. „Wer hat schon den Luxus zu sagen, das ist mein Hobby und meine Leidenschaft und gleichzeitig der Beruf.“ Endlich ist er nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig, kann mit dem Geld teilweise sein Pflegepersonal bezahlen und hätte auch nach möglicher Arbeitsunfähigkeit weiterhin Anspruch darauf. Durch die Vereinigung knüpft er zudem Kontakte mit anderen Fuß- und Mundkünstlern und kann seine Kunst über den dazugehörigen Verlag vertreiben. Zusätzlich zu seinen Gemälden arbeitet er an Kinderbüchern und Terminkalendern und besucht Kindergärten, in denen er den Kindern das Malen mit dem Mund zeigt. Ausgestellt wurden seine Bilder schon an vielen Orten der Welt, sogar in Japan hängen Werke von ihm. Höllerers Kunst ist vielfältig und das gefällt ihm. „Das Schöne an der Kunst ist, dass man abwechseln kann.“ 

Lars malt hauptsächlich mit Öl- und Acrylfarbe und unterlegt seine Bilder teilweise mit Tusche.
Die Kunstwerke von Höllerer wurden unter Anderem schon in Frankfurt, Barcelona, Budapest und Athen ausgestellt.
Der Überlinger orientiert sich bei seinen Landschaftsbildern an der Technik von Paul Cezanne.
Lars hat beim diesjährigen Kunst-Kalender der Vereinigung der Mund- und Fußkünstler mitgewirkt.
„Liebe deinen Nächsten“ heißt das Kunstwerk, das über Lars Bett hängt.

Mitleid möchte Lars nicht. Seine Kunst soll in der Beurteilung nicht von seiner Einschränkung beeinflusst werden. Wer seine Bilder nur erwerben will, um ihm etwas Gutes zu tun, dem rät er davon ab. Sein Talent erklärt er sich folgendermaßen: „Du konzentrierst dich auf ein Ziel, weil du so wenig machen kannst und vielleicht bist du darin besser als davor, weil du nicht abgelenkt bist von anderen Dingen.“ Wenn Lars noch nicht zufrieden mit einem Bild ist, übermalt er es und arbeitet daran, bis es ihm gefällt. Doch Höllerer zeigt nicht nur Begabung, sondern auch Stärke.

„Manchmal denke ich, dass ich dadurch echt zufriedener im Leben geworden bin, weil man eine andere Sicht auf die Dinge hat.“ 

Lars Höllerer

Trotz oder erst recht mit seiner Einschränkung kann er das Positive in allem sehen und scheint mit sich im Reinen zu sein. Durch den Unfall hat er mehr Selbstbewusstsein entwickelt und muss keine Maske tragen, denn er weiß, wer seine Freunde sind und wer nicht. Sich vorzustellen, wie sein Leben ohne den Unfall aussehen würde, hält Lars nicht für sinnvoll. „Ich habe früher immer die Warum-Frage gestellt, aber du bekommst keine Antwort.“ Die Situation ist nun für ihn zur Normalität geworden, doch das bedeutet nicht, dass es einfach ist. Öfters empfindet er körperliche Schmerzen, aber er weiß, dass jeder andere auch schlechte Tage hat und ihm die Malerei wieder neue Kraft gibt. Damit aufzuhören ist mittlerweile unvorstellbar für Lars. „Es ist ein Bestandteil meines Lebens und ich bin froh, dass ich das habe.“

Lars hat viel durch das Unglück gelernt. Die Kunst hat seinem Leben einen neuen Sinn gegeben. Er ruft dazu auf, das zu leben, was man in sich fühlt und dankbar zu sein, statt sich mit anderen zu vergleichen. Er weiß, dass man es nicht jedem Recht machen kann. Seiner Meinung nach sollte man mit Ehrlichkeit und Freundlichkeit durchs Leben gehen und sich nicht zu viele Gedanken um die Meinung anderer machen.