„Beispielsweise liest mir eine Bekannte, die gesetzlich blind ist, im Restaurant die Speisekarte vor. Ob eine Ampel rot oder grün ist, kann sie hingegen nicht erkennen."
Wenn die Welt verschwimmt
Es ist ein warmer Sommernachmittag. Die Bewohner des Örtchens Hohenklingen genießen die Sonnenstrahlen in ihren Gärten. So auch Steffen Vögele. Er ist über einen Holztisch gebeugt, den er gerade restauriert – sein Projekt der letzten Wochen. Der 54-Jährige trägt eine große Sonnenbrille, eine Schildmütze und tastet den Tisch immer wieder ab. Kurz danach verlässt Vögele das Haus; an sein Hemd ist ein gelber Button mit drei schwarzen Punkten gesteckt, in der Hand hält er einen Langstock. Denn 2018 erlitt er einen Sehnervinfarkt am linken Auge. Seitdem hat er dort nur noch 20 Prozent seiner Sehfähigkeit – rechts sieht er seit einer missglückten Operation in Kindertagen nur noch fünf Prozent.
Gleich und doch so verschieden
„Für Außenstehende ist nicht erkennbar, warum ich zwar einen Tisch restaurieren, aber ohne Langstock nicht zum Bus laufen kann“, berichtet er. Eine Problematik, die laut Erhebungen des Statistischem Bundesamt außer ihn etwa 277.500 weitere Deutsche betrifft. Wichtung zum Verständnis sei deshalb, dass Sehbehinderung nicht gleich Sehbehinderung ist, erklärt Vögele. Die Einschränkungen der Betroffenen unterschieden sich meist voneinander.
Schneiden, Türen aufschließen, rasieren – für viele Außenstehende offensichtlich, dass das mit einer Sehbehinderung nicht mehr funktioniert. „Das ist reine Gewohnheitssache“, erklärt Vögele. „Wer schaut im Alltag konstant auf sein Messer, wenn er schneidet?“ Außerdem seien andere Sinne – bei ihm besonders der Tastsinn – geschärft, um die Herausforderungen des Alltags zu meistern. Den Tisch, den Vögele restauriert, sieht er nicht mit seinen Augen, sondern mit seinen Händen. Sich mehr auf andere Sinne zu verlassen, wird bei 66 Prozent der Betroffenen durch eine weitere Behinderung – bei Steffen Vögele Schwerhörigkeit – begrenzt.
Der Tag, an dem die Welt verschwamm
Jener Tag, an dem die Sehfähigkeit seines linken Auges von 85 auf 20 Prozent abfiel, ist dem hochgewachsenen Mann gut in Erinnerung geblieben: „Etwas stimmt nicht“, das war ihm schon beim Aufwachen klar. Als er seinen PC im Büro anschaltete und statt der Icons verschwommene Flecken sah, wusste er, was anders war als sonst. „Als meine Frau im Krankenhaus dann vor mir stand, konnte ich sie nicht erkennen“, erinnert er sich. Die ersten Gedanken des lebensfrohen Mannes nach der Diagnose: „Wie mache ich weiter?“ Und: „Mache ich weiter?“
Fragen, die sich viele Betroffene stellen, weiß Jennifer Schweder, Leiterin des „Jungen Forums“ der Ortsgruppe Stuttgart der „PRO RETINA e.V.“. Dort sowie auch in zahlreichen anderen Vereinen und Gruppen wird Personen wie Vögele eine Anlaufstelle geboten. Das hilft oftmals, sich auf die neue Situation einzustellen. „Die Beraterinnen und Berater sind selbst sehbehindert, haben also ähnliche Situationen durchlebt und können diese Erfahrungen weitergeben“, berichtet Schweder.
Mit Motivation zurück ins Leben finden
„Nach dem ersten Schock, war klar: Aufgeben kommt für mich nicht in Frage“, berichtet Vögele. „Schritt für Schritt habe ich meine Fähigkeiten neu auf die Probe gestellt.“ So lerne er immer besser, mit der Erkrankung umzugehen. Dass er beispielsweise nun ein geschulteres Auge für Details hat, ist für den 54-Jährigen offensichtlich.
„Anfangs habe ich viele Leute auf der Straße nicht erkannt. Inzwischen achte ich besonders auf Personen, die ihr Gesicht verziehen. Sie könnten mir zulächeln, weil sie mich kennen.“
Da alles Ungewohnte zu einer gewissen Unsicherheit führt, fühlt sich der einst so unternehmenslustige Mann nun in den eigenen vier Wänden am wohlsten, denn sie geben ihm Sicherheit. Schon ein unbekannter Bahnhof ist ein Spießrutenlauf, vorbei an schlecht erkennbaren Hindernissen, wie Passanten und Treppen. Hier hilft präzise Planung: Auf einem großen Bildschirm sucht Vögele im Vorfeld Informationen über seine Route und mögliche Fallen – so lange bis auch dieser Ort zu einem bekannten wird.
Eine der wichtigsten Lektionen sei es aber, auf die eigenen Grenzen zu achten. Nach einem Arbeitstag, der dank Teil-EU-Rente nur noch vier Stunden dauert, klagt Vögele oft über sogenannte Augenmigräne, die sich nur mit viel Ruhe und Entspannung kurieren lässt. Der Grund? Das Gehirn arbeitet auf Hochtouren. „Es versucht stetig die fehlenden Bilder mit anderen Informationen zu füllen“, erklärt Schweder. Selbst mit Gesichtsfeldausfällen sehe man meist keine schwarzen Flecken. Stattdessen versuche das Gehirn die fehlenden Informationen zu rekonstruieren. Das endet oftmals mit Verletzungen, wenn sich im bekannten Umfeld die Dinge nicht an ihrem gewohnten Ort befinden.
Von den Erfahrungen Anderer profitieren
Um Erfahrungen auszutauschen, wandte sich Vögele an das „Junge Forum“ der Ortsgruppe Karlsruhe der „PRO RETINA e.V.“. „Unter anderen Betroffenen zu sein, das hilft“, berichtet er. Denn hier weiß jeder, wie viele Gesichter eine Sehbehinderung haben kann – und dass Gartenarbeit und den Nachbar nicht erkennen sehr wohl zusammenpassen. „Bei einigen Fragen rund um meine Sehbehinderung kann mir mein Augenarzt nicht weiterhelfen, die anderen Teilnehmer aber schon“. Deshalb sei dieser Austausch so hilfreich für ihn. Viele Selbsthilfegruppen, darunter auch die „PRO RETINA e.V.“, bieten während der coronabedingten Kontaktbeschränkungen Online- und Telefontreffen an. Denn die derzeitige Situation ist eine ganz besondere Herausforderung. Der Gang vor die Tür, generell schon ein Schritt ins Ungewisse, wird nun noch mehr zur Herausforderung für Vögele. So sei der geforderte Abstand von 1,50 Meter ohne räumliches Sehen nicht erkennbar. Aber nach wie vor ist sein Motto „damit leben lernen“.