„Im Leistungssport und wenn es um die allgemeine Gesundheit geht, ist neurozentriertes Training zukünftig nicht mehr wegzudenken.“
Wie ich meinen Geruchssinn wiederfand
20. März 2020 – Wie jeden Morgen ist mein erster Gang auch an diesem Freitag zur Kaffeemaschine. Während mein Lebensretter langsam in die Tasse fließt, checke ich die Nachrichten. Corona überschattet alles und jeden. Genüsslich nehme ich einen großen Schluck von meinem heißen, frisch gebrühten Kaffee. Doch schnell kommt die Ernüchterung: Die Plörre schmeckt heute nach gar nichts, total wässrig. Enttäuscht schütte ich die volle Tasse weg und verdächtige meine Mitbewohnerin, die Kaffeebohnen mal wieder nicht aufgefüllt zu haben. Doch zu meiner Verwunderung ist das Bohnenfach prall gefüllt. Während ich mir mein Frühstück mache, starte ich einen neuen Versuch. Beim Biss in meine Brezel kommt dann die böse Überraschung: auch sie schmeckt nach nichts. Hektisch spüle ich mit Kaffee nach und erneut: absolut nichts. Das Erste, was mir durch den Kopf schießt, ist: Habe ich Corona? Erst vor Kurzem haben Ärzte Geruchs- und Geschmacksstörung als ein neues Symptom identifiziert. Ich spüre, wie die Panik langsam in mir hochsteigt. Ich renne ins Bad, rieche an meinem Shampoo, sprühe Deo und Parfüm, aber ohne Erfolg. Das kann kein Corona sein, schließlich habe ich keinerlei Symptome.
Amerikanische Forscher fanden heraus, dass Anosmie, also der Verlust des Geruchssinns, häufiger bei jüngeren weiblichen Patient*innen auftritt und ein prognostischer Faktor für einen milderen Verlauf der Krankheit ist.
Diagnose unbekannt
Natürlich frage ich Doktor Google. Der verstärkt meine Ängste aber nur. Verunsichert rufe ich meinen Hausarzt an. Da die Testkapazität völlig ausgelastet ist, folgen drei Wochen häusliche Quarantäne. Auch das Gesundheitsamt rät mir dazu, einfach abzuwarten. Mein Geruchssinn komme schon wieder, das sei nur eine Frage der Zeit, versucht mich die Mitarbeiterin zu beruhigen. Dass diese Zeit letztendlich sechs Monate beträgt, hätte ich mir nicht träumen lassen. Eine Odyssee an Arztbesuchen folgt und ich lasse nichts unversucht, um endlich wieder riechen zu können. Erst nach sechs Wochen habe ich Gewissheit. „Frau Schallmeir, das Ergebnis Ihres großen Blutbildes zeigt, dass Sie Antikörper gegen das Coronavirus besitzen. Damit sind Sie unsere erste Patientin, die Corona hatte“, verkündet mein Arzt am Telefon. Auf diesen ersten Platz hätte ich gerne verzichtet. Da mir kein Arzt mehr weiterhelfen kann, gelte ich als austherapiert und zähle somit zu den Genesenen. Wann und ob mein Geruchssinn jedoch wiederkommt, kann mir niemand sagen.
Geschmack vs. Geruch
Streng genommen ist nur mein Geruchssinn gestört. Die fünf Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami, die wir auf der Zunge wahrnehmen, schmecke ich nach kurzer Zeit wieder. Ob es sich jedoch um Gummibärchen oder Schokoladen handelt, kann ich nicht unterscheiden, da wir alle weiteren Aromen über die Nase wahrnehmen. Über unsere Riechsinneszellen werden Duftreize in unser Gehirn geleitet. So können wir über 10.000 Duftnoten wahrnehmen, die ebenfalls unseren Geschmack prägen. Neben dem Genuss fehlt mir auch eine wichtige Warnfunktion. Ich kann nicht beurteilen, ob die Milch für meinen Kaffee sauer ist oder es nach Rauch riecht.
So wie mir erging es einer französischen Studie zufolge vielen COVID-Erkrankten. Bei rund 50 Prozent der Befragten war der Geruch auch nach sechs Monaten noch eingeschränkt, bei einigen wenigen Fällen sogar noch ein Jahr nach der Infektion.
Neuro-was?!
Nach drei Monaten habe ich die Hoffnung eigentlich schon so gut wie aufgegeben, bis mir ein Freund einen Tipp gibt. Er ist Profifußballer und arbeitet schon länger mit Malte Hartmann, einem Neuroathletiktrainer zusammen. Gerade im Leistungssport und wenn es um die allgemeine Gesundheit geht, sei neurozentriertes Training nicht mehr wegzudenken, erklärt mir Malte in unserem ersten Gespräch.
Ich muss zugeben, als ich zum ersten Mal von Neuroathletiktraining höre, steht mir die Skepsis förmlich ins Gesicht geschrieben. Dennoch gebe ich dem Ganzen eine Chance.
Neuroathletiktraining ist das Training der Bewegungssoftware. Es geht darum, die Inputsysteme des Nervensystems so spezifisch zu trainieren, dass man einzelne Hirnareale aktivieren kann. Über den Input sammeln wir Informationen. Im nächsten Schritt interpretiert das Gehirn die eingegangenen Signale. Auf Basis dieser gefilterten Informationen erfolgt der motorische Output, also die Bewegung.
In unserem ersten Training, der sogenannten Initialsession, führen wir ein Screening des gesamten Nervensystems durch. Mithilfe funktioneller Tests wie Blicksprünge, Sensorik- oder Bewegungstests können wir herausfiltern, welche Gehirnareale unterfunktionell sind und diese durch spezifische Aktivierung hochfahren. Das gleicht das gesamte Nervensystem aus, was wiederum die Bewegungsqualität optimiert. In meinem Fall ergeben diese Inputtests, dass nicht der Riechnerv direkt das Problem ist, sondern vielmehr die Verarbeitung von dem, was ich rieche. Diese Identifikation läuft unter anderem im Temporallappen unseres Gehirns ab. Auf Basis der funktionellen Neurologie weiß man, welche Funktionen die einzelnen Hirnareale haben. So kann man nicht nur durch das Riechen, sondern auch mit anderen Aktivierungsübungen wie beispielsweise Augenbewegungen oder akustischen Reizen dieses Areal hochfahren, um es schneller wieder in den Riechprozess zu integrieren. Meine anfängliche Skepsis ist wie weggeblasen, als ich zum ersten Mal den Geruch von Lavendel richtig zuordnen kann.
Mit Duftöl zum Erfolg
Das ist jedoch erst der Anfang. Um meinen Geruchssinn wiederherzustellen, stellt mir Malte einen Trainingsplan zusammen. Fünf Mal täglich versuche ich kleine Drills aus Inputaktivität und anschließendem Riechtraining in meinen Alltag zu integrieren. Meine Aufgabe ist es, aus zehn verschiedenen Duftölen jeweils das richtige Aroma zu erkennen. Anfangs riechen Zitrus, Teebaum, Eukalyptus und Co. nahezu identisch. Nach und nach feiere ich jedoch die ersten Trainingserfolge. Der Prozess ist mühsam und schleichend. Aufgrund der Neuroplastizität, also der Fähigkeit des Gehirns, Neuronen wieder neu zu verknüpfen, können sich die geschädigten Nervenzellen erneuern. Dies kann jedoch Monate dauern. In dieser Erneuerungsphase riechen viele Dinge anders. In der Wissenschaft nennt man dieses Phänomen Parosmie. Für mich riechen Zwiebeln plötzlich nach Rauch und Erdbeeren nach Käse. Zum Glück hält diese Phase jedoch nicht allzu lang an. Über ein halbes Jahr und zahlreiche Riecheinheiten später kann ich endlich wieder riechen. Mein Geruchssinn ist zwar deutlich schlechter als vor Corona, dennoch kann ich mein Glück kaum fassen, als ich im Sommerurlaub endlich wieder jede einzelne Eissorte blind erschmecken kann.