Die Urlaubsplanung mit der Familie gleicht oft einem diplomatischen Drahtseilakt. Das Ziel muss mit dem Auto erreichbar sein, darf nicht zu kalt und nicht zu warm sein und idealerweise sollten sowohl Berge als auch Meer in greifbarer Nähe liegen. Eine Stadt mit Sehenswürdigkeiten wäre toll, aber bitte nicht zu laut, zu voll oder zu teuer. Kurz gesagt, ein Ort, der das Unmögliche möglich machen soll. Dieses Jahr ist die Urlaubsplanung meine Aufgabe. Nach langem Suchen und Abwägen lande ich schließlich bei der Bretagne. Hier soll es köstliches Essen, charmante Städte, atemberaubende Strände und jede Menge Natur geben. Ein perfekter Kompromiss könnte man meinen. Am Ende steht fest: vier von fünf Familienmitgliedern sind an Bord – ein kleiner Triumph in der Welt der Familienurlaubsplanung.
Unsere Reise beginnt an einem Samstagabend, das Auto bis zum Anschlag mit Koffern, Rucksäcken und genug Proviant für eine Schulklasse beladen. Die Stimmung? Gereizt. Meine Mutter ist nervös, mein Vater gestresst, meine Schwester schlecht gelaunt und ich kämpfe mit den Resten der gestrigen Geburtstagsfeier. Unser Ziel, die Bretagne mit ihren malerischen Dörfern und wilden Küsten liegt im äußersten Westen von Frankreich. In anderen Worten: Vor uns liegen ca. 1.200 km und 13 Stunden Fahrt.
Die unendliche Geschichte
Die französischen Straßen sind zwar hervorragend, vermutlich dank des gut investierten Mautgelds von ca. 80 Euro, aber stundenlange Autofahrten mit der Familie können selbst den geduldigsten Menschen an seine Grenzen bringen. Das Auto ist im Vergleich zum Flugzeug die günstigere Wahl, zwischen Benzinkosten und Verschleiß trotzdem kein günstiges Vergnügen. Der Zug? Mit Familie und Koffer eine mühsame Option. Von Stuttgart nach Brest wären bis zu fünf Umstiege und fast neun Stunden Fahrt nötig. Eine Unterkunft im Landesinneren verkürzt die Reisezeit, doch damit entfernt man sich auch vom Meer. Das Flugzeug spart vielleicht Zeit und Nerven, liegt jedoch schwer auf dem Budget. Direktflüge nach Brest oder Lorient gibt es ohnehin nicht.
Sonntagmorgen, 10 Uhr: Nach 15 Stunden Fahrt, acht Folgen „Game of Thrones“, vier Familiendramen, drei politischen Diskussionen und mehreren Pausen für Kaffee, Tanken und Toilette erreichen wir endlich unser Ferienhaus. Meine Schwester und ich eilen direkt zur Haustür – bereit, den dringend benötigten Schlaf nachzuholen. Doch bevor wir die Schlüsselbox suchen können, entdecken wir durch das Fenster eine fremde Familie, die es sich bereits an „unserem“ Frühstückstisch gemütlich gemacht hat. Verstohlen schleichen wir uns zurück zum Auto, wo ich hektisch die Buchungsbestätigung überprüfe. Tatsächlich – der früheste Check-in ist erst um 15 Uhr möglich. Mit etwas Angst um mein Leben gestehe ich meiner Familie diesen Fauxpas. Die E-Mail, dass das WLAN im Haus aktuell nicht funktioniert, lösche ich schnell kommentarlos. Immerhin fünf Stunden Zeit, die Umgebung zu erkunden. Wie schön.
Plouescat: Einblick in das bretonische Leben
Unser kleines Ferienhaus liegt nur fünf Gehminuten vom Strand entfernt, eingebettet in die ruhige Gemeinde Plouescat, die mit ihren etwa 3.500 Einwohnern typisch für die Region ist. Die Römer prägten den Namen des Départements. Aus Finis Terrae, lateinisch für „Ende der Welt“ wurde das Département du Finistère. Die bretonische Küste zieht nicht nur Touristen an, sie bildet auch die Lebensgrundlage vieler Einheimischer, die hier von und mit dem Meer leben.
Die Fahrt durch die halbe Bretagne hat zumindest einen Vorteil: Wir bekommen schon viel von der Halbinsel zu sehen. Tourismus hat eine hohe Bedeutung für die Region, doch sieht man ihr das nicht direkt an. Riesige Hotelanlagen und teure Ressorts sucht man hier vergebens. Spätestens bei der Unterkunftssuche wird klar: Es gibt zwei bezahlbare Möglichkeiten, in der Bretagne Urlaub zu machen. Man mietet ein Ferienhaus oder schlägt sein Zelt auf einem der zahlreichen Campingplätze auf. Luxus spielt dabei eine untergeordnete Rolle – wer sich für die Bretagne entscheidet, weiß, dass kochen, waschen und putzen auch im Urlaub Teil des Alltags sind.
Den anstrengenden Anreisetag lassen wir im kühlen Wohnzimmer des Ferienhauses ausklingen. Die Fensterläden klappern im Wind, durch die Haustür zieht es und draußen prasselt leichter Nieselregen gegen die Fensterscheiben. Im schlecht beleuchteten Raum teilen wir uns Käsebrote, die 20 Stunden im Kofferraum der Familienkutsche lagen. Ich versuche, die Stimmung etwas zu heben und spreche den zuvor besuchten Strand an. Für heute jedoch keine Chance, höchste Zeit, schlafen zu gehen.
Zwischen Touristen und Tradition
Nach einem entspannten Tag am Strand drücken wir uns ein weiteres Mal in die harten Sitze unserer treuen Reiseschüssel. Unser Ziel ist nichts Geringeres als das achte Weltwunder: der berühmte Mont-Saint-Michel. Die zweistündige Fahrt führt durch leere Dörfer, heruntergekommene Industriegebiete und durch die weite landwirtschaftlich geprägte Landschaft. Je näher wir dem Mont-Saint-Michel kommen, desto dichter wird der Verkehr. Schließlich mündet die schier endlose Autokolonne in einen Parkplatz, der jedes Festivalgelände vor Neid erblassen lassen würde. Noch ist von dem berühmten Monument kaum etwas zu erahnen. Stattdessen empfängt uns eine Menschenmasse, die nach der Parkplatzlandschaft vor die Wahl gestellt wird: wie die Sardinen in einen überfüllten Shuttle-Bus zwängen oder tapfer den 30-minütigen Fußmarsch in Angriff nehmen. Treu der deutschen Wanderliebe entscheiden wir uns für Letzteres und drängen uns an der wartenden Menschenmenge vorbei. Doch sobald wir die Brücke über das Watt erreichen, die den Zugang zum Mont-Saint-Michel ermöglicht, verwandelt sich jede aufkommende Platzangst in pure Begeisterung.
Wie aus den Seiten eines Fantasy-Romans erhebt sich die kreisförmige Granitinsel aus dem Atlantik, eine massive Basis für das ummauerte Dorf, steile Steinhallen, grüne Gärten und – auf dem Gipfel – die imposante gotische Abtei. Der Aufstieg zur Spitze des Mont belohnt uns mit einem atemberaubenden Blick auf die Küstenebenen und das scheinbar endlose Wattmeer.
Manchmal benötigt es einen drastischen Anstoß, um jemanden zum Handeln zu bewegen. So erzählt die Entstehungslegende, dass der Erzengel Michael um 708 n. Chr. dem Bischof Aubert einen deutlichen Wink gab, indem er ihm ein Loch in den Kopf bohrte. Dieser ungewöhnliche Anstoß führte dazu, dass der Bischof den Grundstein für das legte, was sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem der beeindruckendsten religiösen Bauwerke Frankreichs entwickeln sollte.
Heute wird der Mont von jährlich 2,5 Millionen Touristen besucht. Auch im Mittelalter war die uneingenommene Festung ein beliebtes Reiseziel. Insbesondere Pilger aus ganz Europa machten sich auf die Reise, um den Segen des Erzengels Michaels zu erhalten. Diese Reise war nicht ungefährlich; bei Flut wird der Mont zu einer Insel, umgeben von dem wilden atlantischen Meer. Während wir durch die verwinkelten Gassen des Dorfes unterhalb der Burg schlendern, fühle ich mich in eine andere Zeit versetzt. Doch die magische Atmosphäre wird von den Menschenmassen erstickt, durch die wir uns mühsam hindurch kämpfen. Wer dieses Erlebnis in Ruhe genießen will, sollte früh aufbrechen, insbesondere in den wärmeren Monaten.
Brest und Rennes wirken oft wie Orte, die ihren Charme verloren haben. Statt romantischer Cafés und Bäckereien im typischen französischen Altbaustil dominieren hier triste 70er-Jahre-Bauten, leere Einkaufsstraßen und riesige Industriegebiete das Stadtbild. Überzeugen in Rennes können die großen Parkanlagen und prächtigen Fachwerkhäuser. In Brest fühle ich mich fast wie zu Hause – allerdings im negativen Sinne. Die Stadt erinnert mich an Stuttgart, denn auch hier gleicht alles einer riesigen Baustelle. Brest ist mit 140.000 Einwohnern die größte Stadt der westlichen Bretagne und nach wie vor ein wichtiger Marinestützpunkt. Leider wurden große Teile der Stadt im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Bomben zerstört.
Nach längerem Umherirren finden wir auch hier in Brest ein schönes Plätzchen für eine Pause vom pfeifenden Wind. In einem kleinen Restaurant mit regionalen Spezialitäten, schön gelegen in den letzten erhaltenen Altstadt-Gassen, nehmen wir Platz. Zugegeben, von den französischen Köstlichkeiten wie Muscheln, die es hier an jeder Ecke gibt, landet wenig auf meinem Teller. Während kulturell fortgeschrittenere Gäste um mich herum eimerweise Meerestiere aufbrechen, schlürfen und sich durch Gräten kämpfen, genieße ich ein kühles Bier und die guten alten Pommes rot-weiß. Meine Eltern hingegen wagen sich mutig an Hummer und Austern heran. Ich probiere vorsichtig und stelle fest, dass ich doch lieber bei meinen Fritten bleibe. Zum Nachtisch gibt es den beliebten bretonischen Nachtisch Kouign-amann. Ein süßer Butterkuchen.
Finis Terrae – Das Ende der Welt
In der Bretagne zeigt sich Frankreich von einer anderen, ungeschminkten Seite. Statt glamouröser Eleganz wie an der Côte d’Azur oder in Paris erlebe ich hier eine Region, die Wert auf ihre Natur und Kultur legt. Diese Lebensart findet sich an vielen Orten – besonders bei den „Fest-Noz“. Eines dieser Feste entdecke ich zufällig auf dem Heimweg vom Abendessen. Einheimische, jung und alt, tanzen in Trachten zu den Klängen von Dudelsäcken und Harfen. Auch wenn es so klingen mag, diese Feste sind nicht "nur" Touristenattraktionen, sondern gelebte Tradition. Hier fließen römische, keltische und französische Bräuche zusammen. Die schöne Seite der Bretagne zeigt sich abseits der touristischen Hotspots. An den bekannten Orten geht oft das verloren, was die Region einzigartig macht. Nach einem Kampf um den Parkplatz, Anstehen für überteuerte Fish ’n’ Chips aus dem Gefrierfach und Attraktionen wie einem Reptilienstreichelzoo fühle ich mich nicht erholt, sondern eher wie Opfer einer Touristenfalle.
An den Lebensrhythmus der Bretonen passt man sich schnell an: Marktbesuche, frisches Baguette und Käse, Strandspaziergänge und abends ein Glas Wein am Meer. Hier braucht es keine endlose Liste von Sehenswürdigkeiten oder hektisches Sightseeing. Selbst die unvermeidlichen Familienkonflikte wirken hier fast charmant. Schließlich gibt es genug Rückzugsorte, in denen man sich von der Familienüberdosis erholen kann. Die Bretagne lädt dazu ein, einfach im Moment zu leben und die Natur zu genießen – ein Urlaub, der sicher erholsamer ist als überfüllte Party-Strände und endlose Sonnenliegenlandschaften.