„Man ist hier frei. Ich habe sehr viele Freunde gefunden in den 50 Jahren.“
Das vertikale Dorf
Als ich den Asemwald das erste Mal gesehen habe, dachte ich unmittelbar an Kriminalität, Anonymität und einen sozialen Brennpunkt. Ich stempelte die Siedlung als Ghetto ab. Dennoch zog ich mit meinem Freund in die unsympathische Wohnstadt. Drei Wohnblöcke, mit bis zu 23 Stockwerken und insgesamt 1.137 Wohnungen. Klingt ziemlich anonym? Ist es aber nicht.
Ich bin in einem kleinen 100-Seelen-Dorf im Schwarzwald aufgewachsen, mit Einfamilienhäusern samt Grundstücken, so groß wie ein Fußballplatz. Heute bin ich wieder in einem Dorf gelandet. Zumindest fühlt es sich so an. In einem vertikalen Dorf.
Im Sommer setze ich mich gerne in den Wald, der den Asemwald umgibt. Dort ist es immer kühl – ein perfekter Platz, um der sengenden Hitze Stuttgarts zu entfliehen. Es sind immer dieselben Leute, die mir dabei über den Weg laufen. Die Frau, die immer breit grinst, herzlich grüßt und täglich ihre Runden mit dem Rollator durch den Wald dreht. Dann ist da das nette Ehepaar aus dem fünften Stock, das auf der Wiese hinter den Wohnblöcken seinen Hunden „Sitz“ und „Platz“ aneignet. Und natürlich die einen oder anderen, die mein „Hallo“ nicht erwidern. Bei 1.800 Nachbarn kommt das schon mal vor. Und trotzdem fühle ich mich, als würde ich in einem überdimensionalen, 70 Meter hohen Dorf leben. Wenn ich dann in der Wohnung sitze und aus dem Fenster schaue, kommt mir der Asemwald nicht mehr so gigantisch vor wie von außen. Hier drin ist es leise, ganz still. Von den vielen Nachbarn nichts zu hören.
Der Asemwald besteht aus drei fast baugleichen Wohnblöcken und sollte den damaligen Wohnungsnotstand in den Siebzigerjahren lindern. Der damalige Altersdurchschnitt der Bewohner*innen war niedrig, da sich viele junge Familien endlich den Traum einer erschwinglichen Eigentumswohnung erfüllen konnten. Zwischen 21.000 und 85.000 Mark kostete eine Eigentumswohnung damals. 50 Jahre später ist das Durchschnittsalter mit den Bewohner*innen gestiegen und liegt mittlerweile bei Anfang sechzig.
Warum fühlen sich die Bewohner*innen hier so wohl?
Der Asemwaldbewohner und Stadtplaner Felix Wolf schätzt vor allem die Ruhe, den Kontrast zur Innenstadt, die Natur vor der Türe und die schnelle Verbindung in die Stadt. Außerdem spielt das Zusammenleben der Bewohner*innen eine elementare Rolle. Der größte Teil der Asemwäldler*innen legt viel Wert auf ein gemeinsames Leben. So erscheint beispielsweise regelmäßig das Asemwald Intern Magazin, das über Neuigkeiten und Veranstaltungen innerhalb der Siedlung berichtet. Im Tennisclub finden an lauen Sommerabenden jeden Samstag kleine Konzerte statt und regelmäßig wird über das Schwarze Brett zu Spielesonntagen an die großen runden Tische in den Eingangsbereichen der drei Betonriesen geladen.
Gemeinschaftliches Zusammenleben eben. Alles andere als anonym, findet auch Felix:
„In der Innenstadt kannte ich in meinem Mehrfamilienhaus nur meinen direkten Nachbarn – das war's schon. Ich kannte niemanden aus dem Nachbarhaus oder der direkten Umgebung. Das war sehr anonym. Hier im Asemwald ist alles viel persönlicher, man sieht sich oft. Der Asemwald gilt als Vorzeigebeispiel für gelungenes Zusammenleben in Hochhäusern.“
Das Wohnkonzept des Asemwalds gelingt dabei erst durch die Bewohner*innen, berichtet Felix. Durch die Eigentumswohnungen und die soziale Vernetzung innerhalb der Siedlung übernimmt jeder Verantwortung. Jede*r achtet auf jede*n. Das kann manchmal etwas nervig sein, aber gehört dazu und macht das Erfolgsrezept des Asemwalds aus.
Der Asemwald ist also mehr, als die Fassaden der vermeintlich anonymen Kolosse vermuten lässt. Ein eigener privater Wald bietet Tischtennisplatten, Schachspieltische und einen „Trimm-Dich-Pfad“. Ein Tennisclub mit Spielfeldern und Clubhaus, ein Bolzplatz und eine Bocciabahn sorgen für die nötige sportliche Betätigung innerhalb der Wohnstadt. Und dann wäre da noch das hauseigene Schwimmbad. Ein Hallenbad im 22. Stock mit Sauna und Sonnenterrasse. Der Asemwald hat für seine Bewohner*innen so einiges zu bieten, das man von außen zunächst nicht vermutet. In erster Linie eine hohe Lebensqualität.
Renate Bogatke, die im Frühjahr 1971 mit ihrer Familie als frischgebackene Mutter in den Hochhauskomplex zog, kramte für mich in ihren 50 Jahre alten Erinnerungen. „Mein erster Eindruck war toll, die Kinder hatten einen Spielplatz, in den Wäldern waren Tische und Bänke, dort haben wir immer Geburtstag gefeiert. Das war sehr schön. Das Grundstück des Asemwalds galt vor dem Erbau als verwunschen und verrufen. Niemand wollte hier in den Wald, es wurde gemieden. Umso schöner, dass heute so viele Leute gerne hier leben.“
Für Renate Bogatke war es in den Siebzigerjahren purer Luxus, von ihrer alten Wohnung ohne Dusche in eine Neubauwohnung zu ziehen. Die Wohnungen im Asemwald sind Eigentumswohnungen und die Eigentümer*innen wurden verpflichtet, zunächst selbst fünf Jahre in den Wohnungen zu leben, ehe sie sie vermieten. Und so wurden für viele Eigentümer*innen aus fünf Jahren rasch 50 Jahre. Noch heute leben etliche Bewohner*innen der ersten Stunde im Asemwald.
Die Gemeinschaft sei vor allem durch gemeinsame Aktivitäten gewachsen, erzählt Renate Bogatke. Die Bewohner*innen hätten sich regelmäßig getroffen und sich gegenseitig Kurse angeboten. „Es gab Leute, die Englisch- oder Französischkurse gegeben haben. Ich habe einen Kurs für Heimwerken und Malen angeboten. Die Freundschaft zwischen den Bewohner*innen war ziemlich groß und ist es heute noch.“
Mit der Zeit versterben die Asemwäldler*innen der Stunde Null und die Wohnstadt kämpft mit dem demografischen Wandel. Ob die „jungen“ Nachzügler*innen, die von Zeit zu Zeit in den Asemwald ziehen, die Identität des Asemwalds weiterführen und halten können, bleibt offen.
Eins ist jedoch sicher: Das Konzept des Asemwalds und das Erfolgsrezept der Gemeinschaft ist etwas Besonderes.
Wenn ich heute jemandem erzähle, wo ich wohne, und die üblichen Vorurteile über Hochhäuser und Wohnsiedlungen zu hören bekomme, dann grinse ich zufrieden. Dann denke ich an meinen nächsten Schwimmbadbesuch in 70 Meter Höhe, das nächste Tischtennistreffen im Wald mit meinen Nachbar*innen, die unzähligen Sonnenuntergänge, die ich von der Dachterrasse sehen werde, und wie wohl ich mich in meinem vertikalen Dorf fühle.