Im Morgen liegt die Müdigkeit noch wach. Mit Koffein im Blut treffen sich die „Karotten" zu ihrem täglichen Stand-Up-Meeting. Sechs Personen arbeiten bei Chasing Carrots, doch während Dominik, Paul und Fabio im Büro stehen, sitzen die anderen drei im Home Office.
Gerade wird an zwei Spielen gearbeitet und abwechselnd wird verkündet, wie es mit der jeweiligen Arbeit vorangeht. Ihr letztes Spiel „Halls of Torment" soll bald fertig gestellt werden und damit die Version für die Fachpresse stimmig ist, muss alles sitzen. Nun gilt es geplante Features fertig zu entwickeln und den Spielspaß abzurunden.
Ihr neustes Spiel hat noch keinen Namen. Es ist noch in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung und das Konzept muss sich noch beweisen.
Paul soll nebenbei noch eine kurze Beschreibung von Halls of Torment für das Marketing verfassen und möchte dort eine „Prise Humor" einbauen. Da lacht sein Kollege in orange am Bildschirm auf: „Paul und Humor?". Paul ist ein bisschen verwundert, er findet sich eigentlich recht lustig.
Nach dem Meeting wird sich zwar gemütlich, aber doch gezielt an die Arbeit, beziehungsweise den PC gesetzt. Einer begeht diesen Weg in Schuhen, die anderen in Socken. Dann drehen sich die Ventilatoren der Rechner und die Zahnräder in den Köpfen ihrer Benutzer tun es ihnen gleich. Dominik setzt sich an die Outromusik von Halls of Torment, Fabio derweil an ihr neustes Spiel, welches noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium ist.
Da Paul zunächst nichts Witziges für das Marketing von Halls of Torment einfällt, widmet er sich eben dem Spiel selbst. Das ganze Jahr hat Chasing Carrots an Halls of Torment entwickelt und es scheint sich gelohnt zu haben. Spieler*innen können seit Mai 2024 eine nicht ganz fertige, sogenannte „Early Access“- Fassung spielen. Der Ansturm war gewaltig. Das Feedback grandios. Es ist aber auch bislang ihr einziges Spiel, welches Gewinn abwirft.
Chasing Carrots existiert zwar seit 2011, ihre Spiele haben sich aber bisher nur mittelmäßig verkauft. Immer wieder sah sich das Studio gezwungen, sich mit Auftragsarbeiten über Wasser zu halten. Nur waren das keine „richtigen" Spiele, sondern etwa einfache Simulatoren, welche ein Produkt auf einer Messe demonstrieren sollten. Ein Glyphosat-Sprenkler für die Landwirtschaft war ein solcher Kandidat. Doch hier im Büro brennen die Herzen für Videogames, nicht für die Glyphosat-Sprenkler.
Deshalb hat Dominik als einer der Mitbegünder von Chasing Carrots entschieden, auf solche Auftragsarbeiten zu verzichten. In seinen Augen gehe da Zeit verloren, die sie für die Entwicklung von Spielen nutzen könnten. Mit den gekappten Verbindungen zu Auftragsgebern und den mäßigen Erfolg ihres letzten Spiels „The Good Company", war der Erfolg von Halls of Torment dementsprechend wichtig für das Studio.
Wie hart das Überleben in der Branche ist, zeigen allein die letzten Jahre. Nach einer Studie von „Ernst und Young" wurden 2023 weltweit 2500 Mitarbeiter*innen bei den 32 größten Spieleunternehmen gekündigt. Da die Zahl nur auf veröffentlichten Entlassungen basiert, dürfte die Dunkelziffer noch deutlich höher liegen.
Ursache der Kündigungen sollen der harte Konkurrenzkampf, sowie steigende Erwartungshaltungen sein, welche die Produktionskosten in die Höhe schnellen lassen.
Ein Jahr später ist die Situation nicht besser und so gab Microsoft im Mai 2024 die Schließung von vier Game Studios bekannt. Zwei Monate später verloren 220 Entwickler bei dem Studio „Bungie" ihren Job, während der Chef der Firma mutmaßlich über zwei Millionen Dollar für Oldtimer-Autos ausgab.
Dennoch zieht es immer wieder junge Menschen in die Spielentwicklung. Einer davon ist Fabio, der sich nach seinem Bachelor in Medieninformatik nach Praxis sehnt. Obwohl Fabio in anderen Branchen besser verdienen würde, möchte er dennoch seine Programmierfertigkeiten als Spielentwickler geltend machen.
Vor allem liebt Fabio es, wenn er in einen „Flow" kommt. Wenn die Codezeilen sich wie von selbst schreiben und die Zeit nur so vorbeizieht. Doch der Code schreibt sich nun Mal nicht von selbst. Code ist im Grunde genommen auch nur eine Sprache und gerade gibt sie Fabio ein Rätsel auf. Eine Spielmechanik für ihn neustes Spiel will nicht so funktionieren, wie er es ihr in Code diktiert hat. Er versucht, er hinterfragt, er recherchiert. Er kommt nicht auf die Lösung, der Flow bleibt im verwehrt. Dann fragt er seine Kollegen.
Nachdem sie auf des Rätsels Lösung gekommen sind, können sie ihr neues, noch namenloses Spiel testen. Es wird ein kooperatives Spiel, in dem es die Aufgabe von Spieler*innen ist, als Einbrecher dicke Beute zu machen und sich dabei nicht von dem computergesteuerten Hausbesitzer erwischen zu lassen.
Noch ist sich Chasing Carrots nicht sicher, ob der Prototyp zum fertigen Spiel wird. Deshalb wird das Potential vom Spiel im Gametest herausgefordert und... macht es überhaupt Spaß?
Nachdem sie den Hausbesitzer um sein Hab und Gut bestohlen haben, flüchten die Karotten mit dem Fluchtauto. Aus dem Spiel zurück in der Realität. Voller Enthusiasmus wird sich über das Erlebte ausgetauscht. Viele der Wertgegenstände wurden einfach durch das Fenster des Hauses, in Nähe des Auto geworfen. „Wäre cool, wenn man eine Matratze unter dem Fenster aufstellen könnte."
Viele Ideen der Karotten entstehen nicht am Schreibtisch, sondern in der Küche. Hier kommen sie zusammen, um über ihre Projekte zu reden. Hier kommen sie zusammen, um mal über etwas anderes zu reden. Dauerbrenner-Thema Nummer eins bleiben trotzdem die Videospiele.
Tatsächlich ist heute Fabians (vorerst) letzter Tag bei Chasing Carrots. Nach vier Monaten Praxis will er jetzt seinen Master anstreben. Die Zeit bei Chasing Carrots wird ihm wohl in Erinnerung bleiben: „Nach dem Bachelor war das fast schon entschleunigend."
Nachdem Fabio nun aus dem Büro raus ist, ist es hier ruhiger geworden. Während die anderen Karotten im Homeoffice sind, blicken Paul und Dominik melancholisch auf die Zeiten vor Corona zurück. Auf Zeiten, in denen alle Karotten noch im Büro waren. Deshalb steht für Dominik fest: „Der nächste Mitarbeitende, der eingestellt wird, muss sich auch im Büro sehen lassen."