Jugend

Jugendarbeit in Krisenzeiten

Mann mit Cap vor Graffiti Kunstprojekt.
Kim-Simon Stelzig ist hauptamtlicher Mitarbeiter in einem Jugendhaus.
14. März 2024
Krieg, Corona, Inflation: Die ganze Welt befindet sich in einer Dauerkrise. Besonders hart ist das für Jugendliche, die sich in der Orientierungsphase befinden und ihr Leben noch vor sich haben. Kann Jugendarbeit ihnen helfen, mit den vielen Herausforderungen klar zu kommen?

Menschen laufen hastig vorbei, um noch ihre Bahn zu bekommen. Ein stechender Geruch nach Aceton und Lack liegt in der Luft. Von der Decke dringen Geräusche von vorbeifahrenden Zügen durch. Da steht er, zusammen mit zwei Polizist*innen. In einer kurzen Camouflage-Hose mit schwarzen Sneakern und löchriger Cap. Sein braunes T-Shirt ist mit Farbflecken übersäht. Kim-Simon Stelzig ist hauptamtlicher Mitarbeiter beim „Nexus“-Jugendhaus in Oberesslingen. Seit 12 Jahren arbeitet er mit Jugendlichen zusammen und plant verschiedene Aktionen wie das Graffiti-Besprühen der S-Bahnunterführung an diesem Wochenende. Nebenher sitzt er in verschiedenen Gremien der Stadt und engagiert sich politisch für die Interessen junger Menschen. „Ich gebe das aber nach und nach ab, weil ich anderen Menschen den Platz frei machen möchte, gerade meinen Kolleginnen. Es sind viele Männer und vor allem weiße Männer in den Gremien.”

Als die Polizei weg ist, erzählt Kim, dass er mit dem städtischen Tiefbauamt und der Stadt Esslingen die Graffiti-Aktion abgeklärt hätte. Es sei auch ausgemacht gewesen, dass die Polizei informiert werde, was offensichtlich nicht funktioniert habe. Er wirkt verärgert. „Manche Jugendliche haben keine guten Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Wenn sie mich vorhin mit der Polizei gesehen haben, gibt es einige, die erst einmal vom Jugendhaus wegbleiben würden.” Ein Jahr hat Kim gebraucht, um die Genehmigung für das Graffiti-Projekt einzuholen. Die Verhandlungen für solche Projekte dauern lange und bedeuten für Kim, bei ganz vielen Entscheidungsträgern wie dem Kreisjugendring, Überzeugungsarbeit zu leisten. „Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, Jugendlichen Begegnung zu ermöglichen“, erzählt er. Auch, um beispielsweise bei der Berufsorientierung zu helfen. Das Nexus-Jugendhaus bietet jungen Menschen Hilfe bei der Job- oder Ausbildungssuche an und unterstützt beim Bewerbungsprozess. Denn der Bedarf ist hoch: Sorgen und Zukunftsängste junger Menschen sind über die Lockdowns und Corona-Wellen im Jahr 2020 und 2021 gestiegen. 57 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 30 Jahren berichten im Winter 2021 von Zukunftsängsten. Ein Jahr vorher waren es noch 46 Prozent. Jeder zweite junge Mensch in Deutschland hatte Stand Winter 2021 mit psychischen Belastungen zu kämpfen. Das geht aus Jugendstudien vom Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ hervor.

„Wenn man mit seinen Kumpels im Jugendhaus zusammen chillt, fällt es schwer, vor ihnen über die eigenen Sorgen und Probleme zu sprechen.“

Kim-Simon Stelzig, Sozialarbeiter im Jugendhaus „Nexus“

Gespräche über Sorgen und Probleme helfen den Mitarbeiter*innen vom Nexus-Jugendhaus, um die Jugendlichen bestmöglich zu unterstützen und zu begleiten. Allerdings sei das gar nicht so einfach. „Wenn man mit seinen Kumpels im Jugendhaus zusammen chillt, fällt es schwer, vor ihnen über die eigenen Sorgen und Probleme zu sprechen. Da versuche ich die Person zum Tisch-Kickern rauszuziehen oder auch mal mit ihr vor die Tür zu gehen, Blumen zu gießen und dabei langsam Vertrauen zu fassen. Nur so kann ich ihnen helfen und mal über ihre Themen sprechen“, verrät Kim. Zusätzlich zu den globalen Krisen, die junge Menschen belasten, stehen sie im Jugendalter vor wichtigen Lebensentscheidungen. Nach dem Schulabschluss steht der Eintritt ins Berufsleben kurz bevor. Das kann zusätzlich belasten. Ein Junge vom Jugendhaus hat sich während der Corona-Zeit ganz besonders schwergetan, erzählt Kim. Nach seinem wiederholten Hauptschulabschluss war er lange auf der Suche nach einer Ausbildung. Kim kennt ihn seit dieser zehn ist und hat ihn schon bei mehreren sozialen Anlaufstellen unterstützt. Als langjähriger Begleiter freut er sich darüber, dass der junge Mann jetzt als Azubi im Altenpflegeheim anfängt. „Jedes Mal, wenn er ins Nexus kommt, erzählt er stolz, dass er einen Ausbildungsplatz bekommen hat. Man merkt ihm seine Erleichterung an. Trotzdem ist meine Arbeit hier nicht zu Ende. Die Ausbildung auch durchzuhalten und im Berufsalltag nicht morgens zu verschlafen, ist für ihn oft eine Überwindung.“ Der Jugendliche hat seinen Abschluss in Corona-Zeiten geschafft und auch einen Einstieg ins Berufsleben.

Die Oberesslinger S-Bahn-Unterführung ist übersäht von feindseligen Sprüchen. An mehreren Wänden findet sich mit Edding geschrieben, der Spruch “Fuck PKK”. Auch “Corona is Fake!” wurde mit Graffiti an die Beton-Wände gesprüht. Das wollen die Jugendlichen mit der Graffiti-Aktion ändern. Feindseligkeit und Verschwörungstheorien haben in ihren Augen keinen Platz in der Gesellschaft. Der 17-jährige Dennis findet die Kritzeleien hässlich und hatte die Idee, die Stadt etwas schöner zu machen. „Ich finde es wichtig, mit der Aktion zu zeigen, dass Jugendliche nicht nur rumgammeln und wir von älteren Menschen hoffentlich auch wieder mehr wertgeschätzt werden“, erzählt er, während er den anderen Jungs beim Graffiti-Sprühen zuschaut. Verbote und Gesetze in Bezug auf Corona sind Themen, die ihn in diesen Zeiten beschäftigen. Laut repräsentativen Studien befassen sich junge Menschen nicht nur mit den eigenen, persönlichen Lebenssituationen, sondern auch mit den globalen, gesellschaftlichen Krisen. Eine aktuelle Trendstudie zeigt: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beschäftigt 68 Prozent der jungen Menschen zwischen 14 und 29. An zweiter Stelle ist es der Klimawandel mit 55 Prozent, der 2021 noch Thema Nummer eins war. Auf Platz drei schließt sich die Sorge vor einer steigenden Inflation (46 Prozent) an, eng gefolgt von der Befürchtung einer Spaltung der Gesellschaft (40 Prozent). Und 39 Prozent der jungen Generation haben Angst vor einer Wirtschaftskrise. Ziemlich viele Sorgen für eine Jugend.

Entlastung statt Belastung

Im Nexus steht ein Kühlschrank mit Limo, Saft und Spezi oder anderen alkoholfreien Erfrischungsgetränken für die Jugendlichen. Die Getränke werden für etwas mehr als den Einkaufspreis verkauft. Einnahmen macht das Jugendhaus dabei kaum. „Wir wollen unsere Preise durch die Inflation nicht noch weiter erhöhen, obwohl die Stadt das gerne so hätte. Ich sehe aber nicht ein, diese Belastung an die Jugendlichen weiterzugeben. Viele könnten sich das sonst einfach nicht mehr leisten“, erzählt Kim. Aktuell ist die Inflation extrem hoch. Im Juni lag sie laut statistischem Bundesamt bei plus 7,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Noch ein Jahr zuvor lag sie bei plus 2,3 Prozent. Das hat auch Auswirkungen auf die Lebenssituation der jungen Menschen. An manchen Tagen kommen Schüler*innen der Herderschule von direkt gegenüber zum gratis Mittagessen ins Nexus. „Bei manchen gibt es zu Hause kein warmes Mittagessen oder einen Ort zum ungestörten Lernen“, sagt Kim. Niedrigschwellige Angebote seien in diesen Zeiten wichtiger denn je, damit das Jugendhauses attraktiv bleibe.

„Es gibt kaum Orte, an denen sie sein dürfen“

Der Graffiti-Künstler, der die Jugendlichen bei der Aktion unterstützt, hat die gewünschte Vorlage mit Charakteren wie Joshi, Pac-Man oder Link und Szenen aus diesen Videospielen an die Wand vorskizziert. Hoch konzentriert sprühen die Jungs mit Schablonen oder freihändig an den Figuren. Kim kommt ihnen immer wieder zur Hilfe, hält ihnen die Schablonen hin und lässt sie einfach machen. Während Corona und den Lockdowns hat das Nexus-Jugendhaus weiterhin im Freien Treffs unter Hygienevorschriften angeboten. Die Jugendlichen seien sehr dankbar für das Angebot gewesen, berichtet Kim. Auch Tablets und Laptops wurden damals verstärkt für den digitalen Unterricht an die Jugendlichen verliehen. „Viele Schulen haben sich nicht um die Versorgung der Technik für das Homeschooling gekümmert. Daher haben wir das privat bei der Telekom beantragt. So viele Jugendliche vom Nexus hatten einfach nur ein Handy, oft auch mit kaputtem Bildschirm. Wie soll man da Abgaben tippen oder richtig sehen, was die Lehrkraft an der digitalen Tafel zeigt?“  Er habe auch viele Papiere für die Schule ausgedruckt und den Jugendlichen während Corona zum Abholen vor der Tür des Jugendhauses ausgelegt.

Hier und da hilft Kim wie selbstverständlich beim Graffiti-Sprühen, bestellt Pizza zum Mittagessen für die Jugendlichen oder klärt freundlich und offen vorbeilaufende Familien, ältere Menschen und sonstige Interessierte über das Jugendhaus und das Projekt auf. Dagegen wirkt er bei seinen ausschweifenden Erzählungen über all die Themen, die sich in unserer Gesellschaft und vor allem im Umgang mit jungen Menschen ändern müssten, total ernst. Es gebe zwar viele Bolzplätze und Spielplätze, Eltern und Großeltern von dort spielenden Kindern würden aber oft ihre Abneigung gegenüber Jugendlichen zeigen, die dort eben Basketball spielen und Musik hören wollen. Auf der Suche nach einem Ort der Begegnung würden sich Jugendliche dann in Shopping-Malls wiederfinden. Aber auch dort würden sie vertrieben werden, wenn sie nichts kaufen. „Da fühlen sich die Jugendlichen auch unwohl, ganz arg unwohl. Es gibt kaum Orte, an denen sie sein dürfen. Sie werden überall verscheucht.” Erfolgreiche Jugendarbeit funktioniert oft nur in engem Kontakt mit der Politik. So bringt Kim in den Gremien der Stadt die Bedürfnisse der Jugendlichen auf den Tisch. Kritik von Seiten der Sozialarbeiter*innen vom Nexus-Jugendhaus bleibt da nicht aus. „Wir kritisieren ganz arg viel, weil es unser Job ist. Wir müssen viele Chefs kritisieren, wir müssen Partei-Strukturen kritisieren, weil die meistens auf Konsum ausgelegt sind oder auf Exklusion.“ Bewusst ist ihm sehr wohl, dass er sich in der Politik bei vielen mit seiner Kritik keine Freunde macht. „Aber ich mache das ja nicht für mich, sondern für die Jugendlichen.“

buntes Graffitikunstwerk mit Charakteren aus Videospielen
Das Graffitiprojekt der Jugendlichen vom Nexus Jugendhaus verschönert die S-Bahnunterführung in Oberesslingen.
Quelle: Lisa-Marie Riffelt

Die Graffiti-Aktion der Jungs findet viel Resonanz bei vorbeilaufenden Menschen. Einige Erwachsene bleiben stehen, schauen sich die gesprühten Figuren der Jugendlichen an und loben das Kunstwerk und ihre Arbeit. Derweil plant Kim schon seine nächsten Projekte mit den Jugendlichen vom Nexus. Sie wünschen sich einen Türkei-Urlaub im Sommer. Gerade weil einige nicht die finanziellen Mittel für einen Urlaub haben, ist das Projekt für Kim eine Herzensangelegenheit. Spenden werden für die Reise schon fleißig gesammelt. Die verschiedenen Entscheidungsträger der Stadt müssen davon noch überzeugt werden. Vor Kim wartet wieder ein Haufen an Antragstellungen und Verhandlungen mit den Gremien und dem Träger.

Das Jugendhaus „Nexus“ ist ein Teil der offenen Jugendarbeit, d.h. die Angebote erfordern keine Mitgliedschaften und sind für jede*n offen und auf freiwilliger Basis. Alle Aktionen werden durch sozialpädagogische Fachkräfte betreut und haben immer ein pädagogisches Ziel. Oft sind aber auch ehrenamtliche Arbeiter*innen mit an den Projekten beteiligt. Ganz besonders im Fokus der offenen Jugendarbeit stehen die individuellen Bedürfnisse der Jugendlichen. Ihre Teilhabe und Mitentscheidung hat in der offenen Jugendarbeit einen hohen Stellenwert. Um diesen individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht zu werden, findet die offene Jugendarbeit im Dorf, im Stadtteil oder im Quartier statt. Der Kreisjugendring Esslingen ist der öffentliche Träger des „Nexus“-Jugendhauses. Aktionen und das Bestehen der Einrichtung finanzieren sich durch Spenden, öffentliche Gelder oder sonstige Einnahmen. Aktuell fließt viel Geld besonders aus den Bundesgeldern des Aktionsprogramms „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ in die Jugendarbeit. 70 Millionen Euro hat der Bund bereitgestellt, die in zusätzliche Kinder- und Jugendfreizeiten, außerschulische Jugendarbeit und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe fließen.