„Ich habe über die Jahre von allen Ländern etwas mitgenommen. Das war nicht immer positiv, aber es macht aus, wer ich heute bin. Deshalb bin ich nicht der Portugiese oder der Spanier oder der Deutsche. Ich bin Europäer.“
Felipe – Ein Leben in Europa
Als sich Tilmann auf eine Konzertreise nach Lissabon begibt, weiß er selbstredend nicht, dass er dort seiner zukünftigen Ehefrau begegnen wird. Er ist Berufsmusiker, spielt Bratsche im Orchester – genau wie Teresa. Beim gemeinsamen Musizieren lernt der knapp zwei Meter große, hagere Deutsche die kleine, zierliche Portugiesin kennen. Sie kommen sich schnell näher, doch Tilmann weiß, dass er nicht in Lissabon bleiben kann.
Nachdem er abgereist ist, beschließen die beiden, Briefkontakt zueinander zu halten. Ein Jahr lang lesen sie voneinander, dann kommt Tilman zurück und nimmt Teresa mit nach Deutschland. Als Musiker kann er sich allerdings nicht nach Belieben an einem Ort niederlassen, die Orchester der Bundesrepublik sind voll. Schließlich bekommt er aber eine Stelle – in Dänemark.
Tilmann hat keine großen Probleme mit der dänischen Sprache. Da ihr Ursprung germanisch ist, kann er sich vieles vom Deutschen ableiten. Trotzdem hält es Teresa und ihn nicht lange dort, nach einem Jahr in Dänemark wird Tilmann eine Stelle in Weimar angeboten. Mittlerweile verheiratet kehren Teresa und Tilmann nach Deutschland zurück; in der Stadt der Dichter und Denker wird später Felipe geboren. Den Großteil seiner Kindheit wird er aber in Spanien verbringen.
In Europa kann ein Deutscher in Portugal die große Liebe finden, sie in Dänemark heiraten und in Spanien ein Kind mit ihr großziehen. Grund dafür, dass dies nicht nur möglich, sondern auch selbstverständlich ist, ist ein Abkommen, das 1985 zwischen Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaaten ausgehandelt wurde. In einer kleinen Gemeinde an der Mosel, einem Ort namens Schengen, wurde der Abbau von Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen der Mitgliedsstaaten beschlossen. Später schlossen sich weitere europäische Nationen an, unter anderem Portugal und Spanien 1995 oder Dänemark 1999. Heute ist das Schengener Abkommen Teil der EU-Grundrechtecharta.
1.500 Kilometer bis zur Schule
Felipe wächst in Santiago de Compostela, der Stadt am Ende des Jakobswegs, auf. Er wird hier mit sechs Jahren eingeschult, verlässt seine Grundschule aber nach einem Jahr schon wieder. Seine Eltern hatten beschlossen, ihn und seine kleine Schwester Laura auf eine Schule in Deutschland zu schicken. „Das ist nicht ungewöhnlich“, sagt Felipe. „Wenn du als Deutscher in Spanien lebst und eine Schule für dein Kind suchst, entscheiden sich viele für eine deutsche. Die spanischen Schulen sind einfach zu schlecht.“ Also zieht Teresa mit Felipe und Laura nach Dortmund, wo Tilmans Eltern leben. Tilmann bleibt zurück. Er kann seinen Platz im Orchester nicht einfach aufgeben: Wer weiß, wann er wieder eine Stelle findet? Außerdem muss ja irgendjemand die Familie versorgen.
Dass es durchaus nicht abwegig ist, sich in Deutschland eine bessere Schulbildung zu erhoffen, belegen die Resultate der PISA-Studie: Auf der Rangliste von 2015 steht Deutschland in den Kategorien Lesekompetenz und Naturwissenschaft 14 Plätze vor Spanien, in Mathematik sind es sogar 16.
Auf der vermeintlich besseren deutschen Schule bleiben Felipe und Laura aber nur zwei Jahre. Die Reise, die sie jedes Mal auf sich nehmen müssen, um Tilmann zu sehen, ist auf Dauer zu lang. So entscheiden sie, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, die Familie zu trennen. Teresa kehrt mit den Kindern nach Santiago de Compostela zurück.
Familie auf Portugiesisch
Wenn Felipe heute über seine Eltern spricht, bemerkt er, dass seine Mutter immer etwas strenger war: „Meine Eltern brachten mir zuhause das Geigespielen bei. Wenn die Mutter den Unterricht machte, musste ich mich mehr anstrengen als beim Vater, damit sie nicht unzufrieden wurde.“ Insgesamt sei Familie in Portugal eine viel diszipliniertere Angelegenheit als in Deutschland. „Es gilt zum Beispiel als unhöflich, beim Essen zu reden. Trotzdem ist es eine extrem herzliche Angelegenheit, wenn die Familien aus Deutschland und Portugal zusammenkommen“, sagt er. An ein Erlebnis kann sich Felipe besonders gut erinnern.
Ein Portugiese unter Deutschen?
Felipe kehrt mit zwölf Jahren nach Deutschland zurück. Es ist der zweite Anlauf, ihm und seiner Schwester eine deutsche Schulbildung zu ermöglichen. Teresa will dieses Mal bei Tilmann in Spanien bleiben, aber sie kann die Kinder nicht in ein anderes Land schicken, ohne jemanden, der auf sie aufpasst. Die Lösung ist ein Internat in Montabaur, das zum dortigen Landesmusikgymnasium gehört. Das musikalische Talent seiner Familie trägt auch Felipe in sich. Hier bekommt er die Möglichkeit, es auszuleben. Doch die Anfangszeit im Internat ist schwer. Durch seine eigenwilligen, aufbrausenden Launen (manch einer nennt das „spanisches Temperament“) und sein fremdartiges Auftreten wird er für die anderen zur Zielscheibe für Mobbing. Lange fällt es ihm schwer, damit umzugehen. Seine Unzufriedenheit gipfelt in Wutausbrüche, die nur zu mehr Gerede über ihn führen – es ist ein Teufelskreis.
Aber Felipe lässt sich nicht unterkriegen. Er sucht die Fehler bei sich und lernt mit der Zeit, gelassener zu werden: Das Gerede über ihn nimmt ab. „In Montabaur habe ich gelernt, ruhig zu bleiben, mich nicht von jeder Kleinigkeit nerven zu lassen. Die deutschen Kinder sind anders als die spanischen, sind viel reservierter. Wenn da einer aus der Reihe tanzt, machen sich die anderen ohne Erbarmen über ihn lustig“, sagt Felipe.
2017 macht Felipe sein Abitur am Landesmusikgymnasium. Aus den Mobbern von damals sind inzwischen seine besten Freunde geworden und er muss lachen, wenn er daran denkt, dass das je anders war. In Mainz, wo Felipe jetzt studiert, ist er sehr glücklich. Auf die Frage, ob er eher Portugiese, Spanier oder Deutscher ist, antwortet er: