Jeder Mensch hat seine Stärken und Schwächen. Jeder stößt an Grenzen. In der Familie hat er die Chance, so angenommen zu werden, wie er ist – mit allem Licht und Schatten.
Es muss nicht immer so sein
Ich sitze in einem Zug. Draußen vor dem Fenster scheint die Sonne. Sie lässt den Schnee, der das Land bedeckt, glitzern wie tausend kleine Kristalle. Langsam wird die Landschaft immer flacher, je weiter wir in Richtung Norden fahren. Ich verspüre ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch, wenn ich daran denke, dass ich in wenigen Stunden wieder zu Hause sein werde. Oder kann ich es überhaupt „zu Hause“ nennen? Ist „zu Hause“ nicht immer dort, wo das Herz sich wohl fühlt? Kein Ort, sondern ein Gefühl? Nicht da, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird? Also wenn ich diesen ganzen kitschigen Sprichwörtern Glauben schenken soll, dann bin ich gerade nicht auf dem Weg nach Hause. Dann bin ich auf dem Weg dorthin, wo ich meine Kindheit verbracht habe und wo meine Eltern und Geschwister wohnen. Wie man unschwer erkennen kann, macht mich das nicht sonderlich glücklich. Ich höre nicht „Driving Home for Christmas“ in Dauerschleife, wenn ich über Weihnachten nach Hause fahre. Ich brauche keinen dauerhaften Kontakt zu meinen Eltern und Geschwistern. Ganz im Gegenteil: Ich bin aus einem guten Grund 726 Kilometer weit weg gezogen von dort, wo ich aufgewachsen bin. Und ich bin glücklich.
Familie = Rückzugsort?
Das Bild der Familie hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Früher war die Familie dazu da, einander ökonomisch zu unterstützen und zu versorgen. Der soziale Status und die Rolle in der Gesellschaft waren wichtig. Heute ist das ganz anders. Die Familie wird nun nicht mehr als Versorgungsgemeinschaft angesehen. Der Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland aus dem Jahr 2016 zeigt, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland der Familie heutzutage einen großen emotionalen Wert zuschreiben. Einige Bürger äußerten bei den geführten Bürgerdialogen, dass ihre Familie ihr „Lebensmittelpunkt“ sei oder auch ihre „wichtigste Quelle für Lebensqualität“ darstelle. Dieselbe Einstellung zeigt sich auch deutlich, wenn ich mich mit meinen Freunden über das Thema Familie unterhalte. Eigentlich höre ich immer dasselbe. Die Familie ist ein Rückzugsort. Man fühlt sich dort geborgen und geliebt, egal was passiert. Man kann seine Probleme loswerden und bekommt im Gegenzug Trost gespendet. Man kann immer auf seine Familie zählen, sie geben gute Ratschläge und Hilfestellung, wenn man allein nicht mehr weiterkommt. Dieses positive Bild der Familie wird von vielen Statistiken unterstützt. In der Shell Jugendstudie 2019 gaben 92 Prozent der befragten Jugendlichen an, dass ihr Verhältnis zu den Eltern bestens oder gut ist. Ein gutes Familienleben steht bei den Befragten auf Platz drei der wichtigsten Themen. Auf die Frage „Braucht man eine Familie, um glücklich zu sein?“ antworteten 70 Prozent der befragten Mädchen und 57 Prozent der Jungen mit „ja“. Denn das ist die Normalität. Unterstrichen wird die hohe Stellung der Familie durch die aktuellen Corona-Maßnahmen. Über die Weihnachtsfeiertage zum Beispiel wurden die Besuchsregeln ausgeweitet. Vier weitere Personen aus dem engsten Familienkreis durften dann zu einem Haushalt dazukommen. Diese Ausnahme galt aber natürlich nur für die Familie. Wer Weihnachten nicht mit der Familie feiern wollte, sondern zum Beispiel mit Freunden, musste sich weiterhin daran halten, dass nur zwei Haushalte mit maximal fünf Personen zusammenkommen durften. Meiner Meinung nach ziemlich unfair.
Familie = Konflikte und Stress?
Ich habe nun schon einige Tage bei meiner Familie verbracht und auch wenn ich versucht habe, so positiv wie möglich in die Zeit hier hineinzugehen, wurde ich mal wieder eines Besseren belehrt. Bereits nach drei Tagen fühle ich mich unwohl und fange an, mich wegen jeder Kleinigkeit mit meinen Eltern zu streiten. Wie der systemische Familientherapeut Jochen Rögelein in einem Interview sagte, gibt es viele verschiedene Gründe dafür, dass einige Menschen kein gutes Verhältnis zu ihrer Familie haben. Dazu zählen Lieblosigkeit und Kälte, Vernachlässigung, Vorwürfe und Kränkungen oder eine zu strenge Erziehung. In ganz schlimmen Fällen spielen laut Rögelein körperliche Misshandlungen und Gewalt eine Rolle. Allerdings gibt es auch Familien, die ihre Kinder mit ihrer Nähe und Liebe ersticken, sodass diese sich nach Distanz und Unabhängigkeit sehnen.
Letzteres kenne ich nur zu gut. Für mich bedeutet ein Besuch bei meinen Eltern und Geschwistern einfach nur purer Stress. Denn anders als meine Familienmitglieder bin ich ein sehr introvertierter Mensch. Zu viel Nähe und Druck lösen bei mir Erschöpfung und Stress aus, was des Öfteren die Ursache für einen Konflikt ist. Die Psychotherapeutin Claudia Haarmann hat in ihrem Buch „Kontaktabbruch – Kinder und Eltern, die verstummen“ geschrieben, dass Nähe und Autonomie einander gleichwertig sein müssen, damit Gleichgewicht in einer Familie herrscht. Eltern sollten die Art zu sein ihres Kindes nicht verurteilen und ihm die Zeit und den Raum geben, den es braucht. Gleichzeitig brauchen Kinder besonders in der Pubertät sehr viel Unterstützung, um ein gesundes Selbstwertgefühl zu bilden und sich selbst zu finden. Meine Familie hat meine Art leider nie richtig akzeptiert, sondern immer wieder versucht mich zu ändern. Die Nähe zu meinen Verwandten wurde mir regelrecht aufgezwungen. Denn sie sind genau das Gegenteil von mir: extrovertiert und äußerst kontaktfreudig.
Bei unserem Abschied übermannen mich fast die Schuldgefühle, denn ich freue mich schon sehr auf meine eigene Wohnung und die angenehme Ruhe, die darin herrscht. Doch dann kommt auch schon die altbekannte Frage von meiner Mutter: „Wann kommst du mal wieder?“ Von Schuldgefühlen spüre ich jetzt nichts mehr, ich fühle mich nur noch bedrängt. Ich bin noch nicht mal auf dem Rückweg und schon soll ich ans Wiederkommen denken. Und sie legt noch eine Schippe obendrauf: „Melde dich doch öfter mal bei uns!“ Wir wissen beide, dass meine Eltern diejenigen sein werden, die sich zuerst bei mir melden. Bei diesen Telefonaten werde ich eigentlich immer damit begrüßt, dass sie ja schon so lange nichts mehr von mir gehört haben und mal fragen wollten, ob ich überhaupt noch lebe. Es ist ein ewiger Kreislauf, den ich nicht unterbrechen werde, egal, wie oft sie mich dazu auffordern. Ich habe keine Zeit und auch keine Lust auf stundenlange Gespräche mit meiner Familie. Denn hat man sie am Apparat, wird man sie so schnell nicht mehr wieder los. Ich muss da einfach Prioritäten setzen und die fallen nun mal nicht zugunsten meiner Eltern oder Geschwister aus.
Freunde = selbstgewählte Familie?
Eine häufige Folge eines schlechten Verhältnisses in einer Familie ist der Kontaktabbruch. Soziologen schätzen, dass in Deutschland ungefähr 100.000 erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen haben. Claudia Haarmann sagte in einem Interview, dass sich Menschen, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, in ihrer Person nicht wahrgenommen und akzeptiert fühlen. Erst wenn sie realisieren, dass sie kein Verständnis von ihren Eltern entgegengebracht bekommen werden, egal was sie versuchen, brechen sie den Kontakt ab. Ein Kontaktabbruch erfordert viel Reife von einem Kind, denn sie müssen sich danach erst einmal selbst finden und einen Ort suchen, wo sie Sicherheit und Liebe bekommen. Die Eltern fühlen sich dann in den meisten Fällen verzweifelt oder reagieren auch wütend, denn sie haben ihr Kind großgezogen und geliebt. Doch sie müssen den Kontaktabbruch akzeptieren, so Haarmann.
Ich werde den Kontakt zu meiner Familie nicht komplett abbrechen. Es handelt sich bei mir nicht um einen ewigen Streit mit meinen Eltern und auf keinen Fall um Gewalteinwirkung. Es gab bisher noch keinen Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich habe einfach nicht das Bedürfnis, viel Kontakt zu meiner Familie zu haben oder sie jeden Monat zu besuchen. Ich weiß, dass ich sie damit verletze und besonders meine Eltern wünschten, dass es anders wäre, dass ich anders wäre. Aber ich brauche sie nicht, um glücklich zu sein. Aus diesem Grund bin ich an das andere Ende des Landes gezogen. Ich war schon immer sehr selbstständig und genieße es, meine eigenen Entscheidungen zu treffen und unabhängig zu leben. Hier habe ich Freunde, die mich kennen und trotzdem lieben. Wenn mir die Nähe zu viel wird und meine introvertierte Seite mal wieder zum Vorschein kommt, dann akzeptieren sie das und geben mir den Freiraum, den ich in diesem Moment brauche. Sie versuchen nicht, mich zu verändern.
Ein stabiles soziales Umfeld ist neben der Familie für die Menschen in Deutschland auch von großer Bedeutung. Der Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland zeigt, dass Freunde für die Mehrheit der Menschen in Deutschland wichtige Ansprechpartner und Ratgeber sind. Für mich sind meine Freunde meine allererste Anlaufstelle. Die Familie ist keine selbstgewählte Beziehung, Kinder können sich ihre Eltern nicht aussuchen, aber Freunde sind die Familie, die wir uns selbst aussuchen.
In einer Familie, wo Kinder bessere, oder heimlichere Vertraute suchen als Mutter oder Vater – da muß es grob fehlen.
Wenn ich anderen Menschen von meinem eher schlechten Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern erzähle, werde ich oft mit großen Augen angesehen und manchmal sogar direkt als herzlos und kühl verurteilt. Die Familie ist in unserer Gesellschaft heilig, man darf einfach nicht schlecht über sie reden. Aber ich habe es auch schon erlebt, dass einzelne Personen im Vertrauen zu mir gekommen sind und mir von eigenen Erfahrungen berichtet haben. Dabei erzählten sie mir von harmlosen Konflikten, von andauernden Streitereien und in einem Fall sogar von kompletter Funkstille. Ich bin also nicht die Einzige. Aber es fühlt sich oft so an. Denn wir trauen uns nicht, öffentlich darüber zu sprechen. Eben weil ein schlechtes Familienverhältnis nicht die Norm ist. Eben weil die Familie so einen hohen Rang in unserer Gesellschaft hat. Eben weil unserer Gesellschaft die Ehrlichkeit dazu fehlt, sich einzugestehen, dass es grundlegende Differenzen in jeder Familie geben kann. Das sollte so nicht sein. Wir sollten auch darüber reden können, besonders weil die Menschen, die keinen Rückhalt von ihrer Familie bekommen, unterstützt werden müssen und nicht verurteilt. Wir sollten uns nicht dafür schämen müssen. Stattdessen sollten wir uns öfter mal selbst fragen: Was tut mir gut? Was nicht? Was will ich? Was brauche ich? Und wenn die Familie einem nicht guttut, man keinen Kontakt mehr zu ihr will oder einfach auch nicht braucht, dann sollte man sich von den gesellschaftlichen Normen lösen können. Denn es muss nicht immer so sein.