„Ich konnte hier und da Menschen das Gefühl geben, dass es besser ist, miteinander als übereinander zu reden."
Terroranschläge, Staatsaffären, Flüchtlingskrise und der Rechtsruck in Europa. Unsere Gesellschaft steht heute vor neuen Herausforderungen. Das beschäftigt viele Bürger, auch Ali Can.
Ali wurde in der Türkei geboren und kam 1995 nach Deutschland, wo seine Familie Asyl erhielt. Schon damals hat er sich oft als Mensch zweiter Klasse gefühlt: Nicht nur in der Schule, auch die Nachbarn haben der türkischen Familie das Leben schwer gemacht. Heute ist Ali ein international bekannter Sozialaktivist. Der 26-Jährige studiert Lehramt auf Deutsch und Ethik, konzentriert sich momentan aber voll und ganz darauf, sich sozial zu engagieren. Und das auf eine Weise, wie es bisher kein anderer getan hat: Er hört zu, schafft Raum für einen respektvollen Diskurs und versucht, Menschen eine neue Perspektive auf die Dinge zu geben. 2016 gründet Ali die „Hotline für besorgte Bürger“, schreibt darüber sogar ein Buch. Zwei Jahre später ist er Teil der öffentlichen Rassismus-Debatte um den Rücktritt von Fußballspieler Mesut Özil aus der deutschen Nationalmannschaft. Seit 2019 leitet er das VielRespektZentrum in Essen.
Im Interview mit edit. spricht Ali über seine spannende Reise, die Ziele seiner Arbeit und zeigt, dass sich jeder für mehr Respekt engagieren kann.
Wie kamst Du zu der Idee, die „Hotline für besorgte Bürger" einzurichten? Gab es ein Ereignis, das Dich auf diese Idee gebracht hat?
Es war eine Reise in ostdeutsche Städte, die mich so geprägt hat, dass ich mich für das gesellschaftliche Miteinander stärker einsetzen wollte. Ich habe bemerkt, dass mit der steigenden Einwanderung geflüchteter Menschen eine Spaltung der Gesellschaft entstand. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die sehr offen sind, auf der anderen Seite besorgte Bürger, die diese Entwicklungen kritisch sehen. Das hat bei mir den Eindruck geweckt, ich müsse etwas tun, da auch ich selbst und meine Familie davon betroffen waren.
Und wie kam der Stein dann ins Rollen?
Insbesondere nach meinem Besuch bei Pegida habe ich festgestellt, dass es doch Wege zur Kommunikation gibt. Wenn ich mit Menschen persönlich rede, dann ist es etwas anderes. Dazu gehören Mut und Wertschätzung, aber auch passende Räume für Gespräche auf Augenhöhe. Ich möchte zeigen, dass es auch noch eine andere Realität gibt, als die der Funktionäre und Initiatoren dieser Gruppen. Da ich nicht immer vor Ort sein konnte, bin ich auf die Idee gekommen, eine anonyme Hotline einzuführen.
Wie gehst Du mit den Ängsten Deiner Anrufer um? Beschäftigen Dich die Gespräche noch im Nachhinein?
Natürlich beschäftigen mich die Telefonate. Ich frage mich dann: Woher kommen solche Ängste? Wie zum Beispiel, dass die christlich-abendländische Kultur verloren geht. Ich frage mich aber auch, was man gegen diese Angst tun kann. Das Telefon stellt keine richtige Begegnung dar und ist damit auch nicht unbedingt nachhaltig. Ich weiß nicht, was nach dem Telefonat passiert. Aber ich konnte hier und da Menschen das Gefühl geben, dass es besser ist, miteinander als übereinander zu reden.
„Ich konnte hier und da Menschen das Gefühl geben, dass es besser ist, miteinander als übereinander zu reden."
Welche Themen werden in den Anrufen überwiegend besprochen?
Viele Menschen sprechen mit mir über Integration, Islam und Religion, Asyl und Sicherheit. Aber auch Ehrenamt ist ein Thema. Es gibt auch Leute, die sich nicht den politisch rechts tendierenden Gruppen zuordnen würden, aber kulturelle Missverständnisse thematisieren. Zum Beispiel, wenn mir jemand die Hand nicht gibt oder ein kopftuchtragendes Mädchen nicht am Schwimmunterricht teilnimmt.
Welche Idee steckt hinter dem Hashtag #MeTwo, den Du nach Mesut Özils Rücktritt aus der deutschen Fußballnationalmannschaft eingeführt hast?
Es gab einen Satz in Özils Statement, der mich sehr bewegt hat: „Wenn wir gewinnen, bin ich Deutscher, wenn wir verlieren, ein Immigrant“. Damit hat er eine Doppelmoral aufgezeigt. Einer der größten Nationalspieler seiner Zeit verlässt die deutsche Mannschaft aufgrund von Rassismus. Jetzt muss man sich vorstellen, was tagtäglich im Kleinen passieren kann. Mit dem Hashtag wollte ich sagen: „Leute, wir müssen echt über Rassismus reden”. In Anlehnung an den Hashtag #MeToo, der für sexualisierte Gewalt an Frauen bekannt ist, ist #MeTwo nun ein Chiffre gegen Rassismus.
Gleichzeitig verkörpert #MeTwo aber auch ein Plädoyer für eine plurale Gesellschaft: Ich habe zwei oder mehr Herzen in meiner Brust, gleichzeitig bin ich deutsch und etwas anderes. Das ist das neue Deutschsein.
„Ich habe zwei oder mehr Herzen in meiner Brust, gleichzeitig bin ich deutsch und etwas anderes.
Das ist das neue Deutschsein."
Was verfolgst Du mit dem VielRespektZentrum?
Das VielRespektZentrum ist die Fortführung meiner bisherigen Aktivitäten. Dort sind Begegnung, Respekt, Wertschätzung und Streitkultur in einem Haus. Ich möchte zeigen, dass man mit unterschiedlichen Menschen friedlich und respektvoll zusammenleben kann. Vielfalt muss man erleben, Vielfalt muss man lernen, Vielfalt muss man aushalten.
Was ist das übergeordnete Ziel Deiner ganzen Bemühungen?
Ich möchte, dass Menschen lernen, miteinander zu reden. Dass sie erlauben, sich zu irren, dass sie verletzlich sein können und dass sie offen für Veränderung sind. Sie sollen Freundschaften bilden oder zumindest wertschätzend mit Differenzen umgehen.
Wie schätzt Du die derzeitige Lage der Gesellschaft ein?
Es existieren zwei Richtungen, die aber paradox sind. Wir stehen besser als je zuvor da: Es gibt immer mehr Barrierefreiheit, immer mehr Frauen, die fast so viel verdienen wie Männer, immer mehr Geflüchtete, die Berufe ausüben. Bei allen Problemen, die wir haben, ist die Tendenz super. Gleichzeitig macht mir das Schleichen des Rechten große Sorgen. Es ist für mich kein Rechtsruck, da es sich eher in die Parlamente einschleicht. Da habe ich Angst, und da sollten wir alle Angst haben, weil ein Teil der Bevölkerung für Gewalt und Hass sehr empfänglich ist.
Was forderst Du von der Politik?
Es braucht mehr Bildung, mehr Herzensbildung. Das können Begegnungsstätten oder feste Freundschaftsorte sein. Aber warum macht der Staat nichts daraus? Klar gibt es Jugendzentren, aber was ist mit den Älteren, die statistisch gesehen eher die konservativen Parteien wählen? Das ist für mich kein Zufall und deswegen muss die Politik hier ganz klar für Begegnung sorgen.
Was können wir im Einzelnen dagegen tun?
Das ist immer davon abhängig, was jeder tun möchte und kann. Jeder hat unterschiedliche Fähigkeiten, Orte, wo er hingeht, Familie, Hobbys. An diesen verschiedenen Punkten sollten wir für ein offenes Miteinander werben. Das ist eine soziale Haltung, die wir verbreiten. Zum einen eine Haltung, dass jeder etwas tun kann, und zum anderen, dass sich die Gesellschaft verändert und wir damit Zufriedenheit finden müssen. Deshalb sollte man mit den Menschen achtsam sein. Ist das jetzt gerecht was man sieht? Wie geht es anderen, wie sehen andere das, was ich lebe? Das kann und sollte jeder für sich in seinem eigenen Umfeld tun.
Vielen Dank für das Gespräch, Ali!
Mit der Hotline für besorgte Bürger erreichst Du Ali Can unter der Nummer: 0800 - 90 900 56.
Spreche mit ihm, falls Dich etwas rund um die Themen Integration, Rassimus, Islam und Politik beschäftigt oder Du Dich mehr für seine Arbeit interessierst.
Hier der Link zur Website: www.hotline-besorgte-buerger.de