„Eigentlich habe ich gedacht, dass meine Kindheit ganz normal war. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kommt sie mir nicht so normal vor.“
Außer Atem
Ebru ist 25 Jahre alt und lebt zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern in einer gemütlichen Wohnung in Gärtringen. An den Wänden ihres Zimmers hängen viele Fotos, die sie an ihre verschiedenen Reisen erinnern. Die Stimmung ist etwas nervös, da sie zum ersten Mal in einem Interview über ihre Krankheit sprechen wird. Heute hat Ebru frei – ungewollt. Ihr Arbeitgeber schickte sie wegen einer Erkältung nach Hause. Was für die einen ein paar gemütliche Tage zuhause bedeuten würde, ist für Ebru lebensgefährlich.
Die Erinnerungen an ihre Kindheit lassen Ebru zu Beginn schmunzeln, aber ziemlich schnell erscheint ein Schatten auf ihrem Gesicht und das Lächeln verschwindet. Die vielen Krankenhausaufenthalte aufgrund starker Lungenentzündungen tauchen in ihren Erinnerungen auf: Sie waren der Grund, weshalb sie oft für längere Zeiträume aus ihrem vertrauten Umfeld herausgerissen wurde. Im Alter von acht Jahren wurde sie im Universitätsklinikum Tübingen an ihrer Lunge operiert. Durch die OP verminderten die Ärzte die Entzündungen und stellten eine Diagnose fest. Die Diagnose lautet Primäre Ciliäre Dyskinesie, kurz PCD – eine seltene Lungenkrankheit.
Die in der Universitätsklinik Tübingen festgestellte Diagnose wurde an den behandelnden Arzt weitergeleitet, doch aufgrund eines nicht bekannten Fehlers stellte der Arzt eine andere Diagnose: Asthma. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr wurde Ebru gegen diese Krankheit behandelt. Trotz medikamentöser Behandlung waren die Lungenentzündungen schwer zu kontrollieren.
„Meine Lunge ist schon zu 40 Prozent kaputt.“
Nach dem Wechsel zu einem Lungenfacharzt wurde Ebru weitere zwei Jahre lang mit der Diagnose Asthma behandelt. Doch der Arzt bemerkte, dass etwas nicht stimmt. Auf seinen Wunsch wurde Ebru im Klinikum Tübingen intensiv behandelt und durch eine Lungenspiegelung wurde erneut festgestellt, dass sie an PCD erkrankt ist. Außerdem stellten sie fest, dass ihre Lunge durch die Fehlbehandlung bereits 40 Prozent ihrer Funktionsfähigkeit verloren hat.
Was ist PCD?
Durch die mangelnde Beweglichkeit der Zilien (Flimmerhärchen) bei PCD-Patienten ist der Sekrettransport gestört und die natürliche Selbstreinigung (mukoziliäre Clearance) der oberen und unteren Atemwege nicht oder nur eingeschränkt möglich. Eine verminderte Infektionsabwehr ist die Folge. Die Patienten leiden meist von klein an unter permanenten Entzündungen von Lunge und Bronchien sowie andauernden Nasennebenhöhlen- oder Mittelohrentzündungen. Typisch sind auch Bronchiektasen (Zerstörung und Aussackungen der Bronchien) und männliche Unfruchtbarkeit.
Quelle: https://www.lungeninformationsdienst.de/krankheiten/weitere-lungenerkrankungen/primaere-ciliaere-dyskinesie-pcd-und-kartagener-syndrom/grundlagen/index.html
„Ich wäre fast gestorben.“
Für Ebru war es nicht leicht, die Diagnose zu verarbeiten. In ihren Gedanken spielten sich die Worte des Arztes ab, dass sie ohne weitere Behandlungen in einem Jahr sterben würde. Dies ist nun drei Jahre her, heute führt Ebru ein fast „normales“ Leben. Alle drei Monate muss sie stationär behandelt werden. Damit sie besser atmen kann, muss ihre Lunge durch eine Spiegelung gesäubert werden. Danach fühlt sie sich jedes Mal wie neugeboren. Ein wichtiger Eingriff steht noch bevor: Eine Lungentransplantation.
Durch zehn Jahre Fehlbehandlung haben die Lungen einen großen Schaden erlitten, um eine Transplantation kommt Ebru nicht mehr herum. Die einzige Frage ist nur, wann sie eine neue Lunge erhalten wird. Ebru könnte jeden Moment an einer starken Lungenentzündung erkranken, was selbstständiges Atmen für sie unmöglich machen würde. Ohne Erkrankung ist Ebrus Lunge laut Arzt noch bis zu ihrem 40. Lebensjahr funktionstüchtig.
Die Tatsache, dass sie eine Fehlbehandlung durchmachen musste, hat Ebru nicht einfach auf sich sitzen lassen. Sie entschied sich, eine Strafanzeige gegen ihren ehemaligen Arzt zu öffnen. Vor wenigen Monaten hat hierzu bereits die erste Gerichtssitzung stattgefunden. In der Nacht davor konnte sie nur wenig schlafen und war nervös, doch im Gerichtssaal hat sie sich schon viel sicherer gefühlt und so verlief die erste Sitzung auch sehr erfolgreich. Laut ihrem Anwalt würde die gegnerische Seite nun ein Angebot bezüglich des Schmerzensgeldes, das Ebru für die jahrelange Fehlbehandlung erhalten wird, abgeben. Wie hoch diese Summe ist, wird Ebru noch erfahren.
Diese Situation ist vor allem für ihre Mutter sehr schwer. Sie muss mit der Tatsache leben, dass ihrer Tochter jeden Moment der Atem ausgehen könnte. Im Haushalt gibt sie besonders viel Acht, dass Ebru den Tag so gesund wie möglich übersteht. Sie stellt beispielsweise besondere Handtücher für ihre Tochter zur Verfügung, die sonst keine andere Person verwenden darf und die sie jeden Tag wechselt. So schützt sie ihre Tochter vor möglichen Erkrankungen wie der Grippe. Die größte Herausforderung für sie ist die Tatsache, dass sie ihre Tochter zwar schützen, aber ihr nicht die Freiheit nehmen möchte. Sie wünscht sich, dass Ebru so viel wie möglich erlebt und keine Einschränkungen durch ihre Krankheit erleidet.
Eine andere Art, wie sie sich mit ihrem Schicksal angefreundet hat, ist ihr neues Hobby. Ebrus Leidenschaft für das Reisen begann kurz nachdem sie die Diagnose PCD erhielt. Sie fing an, ihr Leben in vollen Zügen zu genießen und jeden Tag auszunutzen. Ihr Höhepunkt war bis jetzt die diesjährige Reise nach Kalifornien/USA. Natürlich ist das Verreisen eine Herausforderung für Ebru, denn bereits der lange Flug bedeutet für sie viele Stunden mühsames Atmen in engem Raum. In New York kam sie ins Krankenhaus. Doch sie nimmt diese sowie alle zukünftigen Herausforderung nur allzu gern an und genießt jeden einzelnen Moment.
„Ich will so viel verreisen wie möglich!“