„Es ist nicht so, dass man mit erhobener Faust rumfährt und etwas fordert.“
Da kommt was ins Rollen
Freitag, 1. Dezember, 18 Uhr. Der Kessel brummt. Die Straßen sind dicht. Während sich die Autofahrer im Schneckentempo durch den Feierabendverkehr quälen, ist Stuttgarts Fahrradszene schon in Feierabend-Laune. Am Feuersee trudeln auf Mountainbikes, klapprigen Damenrädern und Rennrädern immer mehr Menschen ein. 18.25 Uhr. Im Lichtermeer aus Fahrradleuchten tönt aus Boxen von Gepäckträgern Musik. Alle Radler sind startklar. 18.30 Uhr. Wildes Geklingel. Dann setzt sich die Fahrradmasse langsam in Bewegung.
Fahrradfahrer gehen im Verkehrsgeschehen der Großstädte oft unter. Was aber, wenn sich hunderte, tausende Radfahrer in einer Stadt zusammentun und sich so ihren Platz im Straßenverkehr zurückerobern? Genau das passiert bei einer Critical Mass: Fahrradfahrer treffen sich zu Massen-Radtouren und radeln gemütlich durch die Stadt. „Wir behindern nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr“, ist ihr Motto. Was sie tun ist legal. Wenn mehr als 15 Leute mitfahren, bilden die Radfahrer laut Straßenverkehrsordnung nämlich einen geschlossenen Verband, der sich auf der Straße fortbewegen darf. Die Critical Mass kommt aus San Francisco, ist im Ursprung anonym und nicht organisiert.
Seit sieben Jahren schwingen sich auch die Stuttgarter Radler immer am ersten Freitag im Monat auf die Fahrräder. Ihr Ziel: Ein Ausrufezeichen setzen, werben fürs Fahrradfahren, sich sichtbar machen. Neben Berlin, Hamburg und Köln gehört Stuttgart mit monatlich rund 1000 Fahrradfahrern zu den größten Critical-Mass-Bewegungen Deutschlands. Hauptproblem in Stuttgart ist, dass sich viele Radfahrer auf den Straßen unsicher fühlen. Der Grund: Radwege sind schlecht vernetzt, oft nur schmale Streifen oder gar nicht vorhanden. Außerdem hat das Auto nach wie vor einen hohen Stellenwert in den Köpfen.
„Eine fette Autostraße voll mit Radfahrern“
Ein Bild, das Alban Manz, Mit-Initiator und Wegbereiter der Critical Mass in Stuttgart, auch hier sehen wollte. „Das war mein ganz persönlicher Traum, dass da wirklich mal so eine Radfahrwelle durch Stuttgart schwappt“, erklärt der 43-Jährige. Als er 2011 jedoch bei den ersten Critical-Mass-Terminen war, musste er feststellen, dass davon noch lange nicht die Rede sein konnte. Mit unzähligen Flyern, Aufklebern und viel Mundpropaganda pushte und streute er die Bewegung „guerilla-mäßig“ durch den Kessel. Solange bis im Sommer 2014 der richtige Boom mit 300 Mitfahrern kam. „Die 1000 haben wir tatsächlich erst dieses Jahr geknackt, aber ich geh’ mal davon aus, dass der Höhepunkt noch nicht erreicht ist“, sagt er.
Die Stuttgarter Critical Mass sei fast schon eine Attraktion, weil die Demo so groß ist. Um mitzufahren kommen deshalb sogar Leute vom Bodensee oder aus München. Auseinandersetzungen mit Autofahrern sind selten. „Richtig aggro ist vielleicht einer von hundert. Die Geduld der Autofahrer ist manchmal fast schon erstaunlich“, lacht Alban. Genervte Autofahrer werden an die Polizei verwiesen, die die Massen-Radtouren absichert. Unter den Radfahrern ist alles cool, die Leute seien extrem freundlich zueinander. „Man fährt für eine gemeinsame Sache. Das verbindet ungemein, wenn man im gleichen Tempo die Straße in Beschlag nimmt“, schwärmt er.
Die Critical Mass hat die Stuttgarter Fahrradszene verändert. Andere Projekte und Bewegungen haben sich anstecken lassen oder sind parallel entstanden. Die Bewegung sei ein guter Nährboden für Initiativen. Von konkretem Einfluss auf Radverkehr oder Verwaltungsentscheidungen geht Alban jedoch nicht aus. „Trotzdem hoffe ich immer, dass die Leute, die sich für den Radverkehr einsetzen, den Mumm oder einfach die Idee haben, sich auf die Critical Mass zu berufen“, sagt er.
„Die Critical Mass ist eine sehr wichtige Bewegung von vielen engagierten Fahrradfahrern, die zeigen: Es gibt uns auch in Stuttgart.“
Claus Köhnlein, Fahrradbeauftrager der Stadt, ist selbst schon bei der Critical Mass mitgefahren und jeden Tag auf dem Fahrrad unterwegs. Die Hürden der Radfahrer sind ihm bewusst und er findet es wichtig, dass sie sich engagieren. „Sie fordern eben, dass die Förderung schneller gehen sollte“, sagt er. Das umzusetzen sei nur nicht immer so einfach. Langfristiges Ziel der Stadt ist es den Radverkehrsanteil von aktuell sechs Prozent auf 20 Prozent zu erhöhen. „Das ist eine große Herausforderung, aber wir sind dran das mit den Personalmitteln, den Haushaltsmitteln und den uns zur Verfügung gestellten Geldern herzustellen.“
Es tut sich was: Immer mehr Stuttgarter entscheiden sich für das Fahrrad. Und Radfahrer bedeuten mehr Lebensqualität – klingt ganz einfach und bringt allen was. „Mit noch mehr Radverkehr hätten wir bessere Luft, weniger Lärm, mehr Gesundheit, mehr Freude – eine schönere Stadt“, sagt Alban. Auf dem Rad erlebe man die Stadt ganz anders. „Man ist ganz nah dran, man hat nichts zwischen sich und der Umgebung, das Rad ist das perfekte Werkzeug um sich durch die Stadt zu bewegen.“