Ausflug in eine alternative Identität
Vor den Türen der Schenke „Zur Alten Mühle“ herrscht dichtes Getümmel. Die bordeauxrote Wollmütze Fjörnirs sticht schnell ins Auge. Er unterhält sich. Seine Hand ruht dabei am Griffstück seines Schwertes. Plötzlich schlägt wie aus dem Nichts ein Pfeil mit voller Wucht auf den Brustpanzer eines unvorbereiteten Mannes neben ihm ein. Schwerter werden gezogen, Schilde erhoben. Schlachtrufe ertönen aus der Richtung, aus der der Pfeil geflogen kam.
Am Vormittag trug Fjörnir noch den Namen Kai. 26 Jahre alt, Lehramtsstudent und leidenschaftlicher Rollenspielfan. Er betreibt Live Action Role Play („LARP“), was seit knapp sechs Jahren fester Bestandteil in seinem Leben ist: „Ich war schon immer vom Mittelalter und von Fantasy begeistert. Mein damaliger Partner war bereits aktiv „LARPer“ und hat mich eines Tages mitgenommen, damit ich mir selbst ein Bild machen kann. Seitdem bin ich nicht mehr davon losgekommen.“
Vor der Taverne trifft Fjörnir auf seine alten Weggefährten Darion und Magnus. Darion trägt eine schwere Rüstung, Magnus ein weißes Gewand. Er schwärmt davon, wie sie zusammen schon immer fürs Grobe zuständig waren, während Lia, eine Elfe und die Vierte im Bunde, die Scherben beseitigt hatte. Die Trinkstube ist ein Gasthaus in der Nähe von Siegen und an diesem Abend der Austragungsort einer sogenannten LARP-Convention (LARP-Con). Auf diesen ein- oder mehrtägigen Veranstaltungen denken sich die Organisatoren eine Geschichte aus, vergleichbar mit einem Drehbuch. Einige wenige Teilnehmer spielen vorgeschriebene Rollen, wie beispielsweise Dorfbewohner oder Räuber, um die Story voranzutreiben. Kai schlüpft in seine eigene Figur „Fjörnir“ und handelt dabei so, wie Fjörnir handeln würde. Der Ablauf der Geschichte bleibt immer eine Überraschung. „Es gibt nicht das eine, was immer passiert“, sagt Kai. Der Fluss eines Spiels verläuft spontan und unvorhersehbar, wobei die Charaktere der Spieler unmittelbar aufeinander reagieren.
Abseits der Tarverne, auf einer verwachsenen Höhenlage, umgibt grün-blauer Nebel das Grab der Herrscherfamilie „deZamoli“. Man munkelt, dass Rebellen einige Gegenstände vom Grab der Familie entfernt haben. Nun sollen die Kinder der Familie als Geister in die Welt der Sterblichen zurückkehren. Fjörnir ist fest entschlossen, dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Er wuchs in der Hauptstadt Gotlands auf, die damals überfallen wurde. Er musste mit ansehen, wie seine Mutter und kleine Schwester ermordet wurden, ehe er auf eines der letzten zwei Boote fliehen konnte. Seither macht er es sich zur Berufung, seine Mitgefährten um jeden Preis zu beschützen, so hat es sich Kai zumindest ausgedacht. Vorgaben hatte Kai für die Charaktererstellung von Fjörnir keine: „Ich wusste nur, dass in der LARP-Gruppe, in der ich mitspielen wollte, alle die Rolle eines Nordmannes, eines Wikingers, hatten. Daran orientierte ich mich.“ Er überlegte sich grob, in welche Richtung sein Spielstil gehen sollte und fand sich in der Rolle des Jägers am besten aufgehoben: frei und unabhängig. Für seinen Namen googelte er nach altschwedischen Vornamen und stieß letztlich auf Fjörnir – der, der Leben schützt. „Wenn man so will, entstand die gesamte Hintergrundgeschichte und das, was Fjörnir bis heute ausmacht, nur durch die Bedeutung seines Namens“, fügt Kai hinzu. Für ihn ist LARP mehr als nur Rollenspiel. Es gehe darum, sich auszuprobieren, seine Komfortzone verlassen zu können. „Ich habe durch Fjörnir gelernt, besser mit Konfliktsituationen umzugehen und Worte bedachter zu wählen“, erzählt er. Fjörnir musste schon etliche Male vor vielen Leuten Reden halten oder diese gar zurechtweisen, wenn es für ihn angemessen erschien. Dadurch sei Kai präsenter im Uni-Alltag geworden und könne besser präsentieren.
„Teilweise komme ich mit zitternden Händen aus den Schlachten zurück, weil mir das Adrenalin bis in die letzte Ader pumpt!“, erklärt Kai. Hinter den realistisch inszenierten Kämpfen mit Schaumstoffwaffen herrscht ein striktes Regelwerk. Die „Opferregel“ besagt beispielsweise, dass im Extremfall der Charakter eines Spielers nur dann sterben kann, wenn der Spieler das auch selbst entscheidet. Der Tod eines Charakters geht dann oft auch mit anschließender Beerdigungszeremonie einher.
Schmerzverzerrte Gesichter und Schreie prägen das Schlachtfeld. Fjörnir versucht, einen Verletzten zu besänftigen. Er hält ihn mit festem Griff an der Schulter, spricht laut und klar ein Gebet für ihn. Lia versorgt derweil die Wunden. Kai schreibt mit Fjörnir seine eigene kleine Heldengeschichte. Im echten Leben hingegen stieß er zunächst auf Ablehnung, denn seine Eltern hielten von seinem Hobby recht wenig: „Ich habe zu Hause immer Bilder und Videos von Cons gezeigt. Einmal war zu sehen, wie ich an vorderster Front in die Gegnermassen hineinstürme. Meine Mutter war entsetzt!“ Nach und nach konnten seine Eltern der Sache jedoch immer mehr Sympathie entgegenbringen. Kais Vater bewundert die Handwerkskunst hinter der zum Teil selbst gemachten Ausrüstung im LARP. Seiner Mutter gefallen die detailverliebten Gewänder. Seine Freunde zeigten hingegen schon immer Interesse für seine Passion. Doch auch sie stoßen irgendwann an ihre Grenzen: „Oft sagt man mir, man könne die Uhr danach stellen, wann ich wieder mit dem Thema LARP anfange. Verfalle ich zu tief darin, werde ich dann schon gebremst, was gut nachvollziehbar ist“, fügt Kai hinzu.
Wo soeben noch harsche Kämpfe und Verwundete die Szenerie bildeten, tauscht sich Kai auch schon begeistert mit anderen Mitspielern über den Abend aus. Von Fjörnir redet er dabei stets in der dritten Person. Er selbst war kaum an diesem Abend anzutreffen. Es war Fjörnir, der Seite an Seite mit seinen Gefährten treu das Schwert gegen seine Feinde schwang.