„Es gab Arbeitgeber und Vermieter, die mich nicht haben wollten. Ein Aufenthaltsrecht welches nur sechs Monate gültig ist, ist keine Versicherung für einen langfristigen Aufenthalt. Für niemanden, nicht einmal für mich."
Fiktive Endlosschleife
Sommer 2019, Stuttgart. Prüfungsphase. Victor ist nach der Schule auf dem Weg nach Hause. Bald hat er seinen Abschluss in der Tasche. Ein Hauch der Erleichterung liegt in der Luft. Enthusiasmus vermischt sich mit dem Prüfungsstress. An der Haustür angekommen, schielt er durch den schmalen Spalt des Briefkastens. Er erkennt einen Brief, adressiert an ihn. Er führt den Schlüssel in das Schloss. Während er die letzten Stufen zu seiner Wohnung hinaufsteigt, reißt er den Brief auf. An der Türschwelle angekommen bleibt er stehen und ist geschockt von dem, was er liest. An jenem Tag wusste Victor, dass er sofort nach einer Weiterbildung suchen muss. Ansonsten könnte er sein Recht auf Aufenthalt verlieren und abgeschoben werden.
Ein fiktiv erlaubter Aufenthalt
Victor wird im Jahr 2001 als Sohn einer russischen Mutter und eines israelischen Vaters in Jerusalem geboren. Er hat zwei ältere Schwestern. Aufgrund von politischen Unruhen und militärischen Auseinandersetzungen ist die Lage in Israel sehr angespannt. So sehr, dass die Familie anfing sich Sorgen um die Zukunft zu machen.
Zu der Zeit lebten die Großeltern von Victor in Stuttgart, sie immigrierten von Russland nach Deutschland. Außerdem hat Victors Mutter in den 80er Jahren studiert, ihr Auslandssemester vollzog sie an der Universität Stuttgart. Die Verbundenheit zur Stadt führte dazu, dass die Familie 2002 in die Landeshauptstadt auswandert. Doch das bleibt nicht sein einziger Umzug. Victors Leben ist von wechselnden Wohnorten geprägt. Unter anderem geht es fünf Jahre lang in die Hauptstadt Großbritanniens, nach London. Im Jahr 2012 zieht es die Familie jedoch wieder nach Stuttgart. Da Victor in Israel geboren ist und die israelische Staatsangehörigkeit besitzt, gilt er als Drittstaatsangehöriger.
Was ist ein Drittstaatsangehöriger?
„Als Drittstaatsangehörige werden Ausländerinnen oder Ausländer definiert, die keine Unionsbürger, Staatsangehörige eines Mitgliedstaates des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), Schweizer oder Familienangehörige eines solchen Staatsangehörigen sind.“
Quelle: Zoll
Drittstaatsangehörige wie Victor, welche nicht flüchten, sondern nach Deutschland „einwandern“, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um ihr Aufenthaltsrecht zu sichern. Dazu gehört beispielsweise, einer Ausbildung nachzugehen oder erwerbstätig zu sein. Victor erhielt deshalb im Sommer 2019, als er kurz vor seinem Schulabschluss stand, die Aufforderung zur Weiterbildung. Er war dazu verpflichtet, sein zukünftiges Kapitel schneller anzugehen, anders als viele andere Teenager in Deutschland.
Victor bildete sich daraufhin weiter, von der Fachhochschulreife bis hin zum Eventmanagement Diploma. Seit dem Jahr 2022 engagiert er sich ehrenamtlich. UkrainBW e.V. heißt die Stiftung, in der er sich freiwillig für die Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge einsetzt. Seit Oktober 2023 ist er Student. Außerdem hatte er schon allerlei Jobs. Er hat unter anderem als Kellner, Lieferant und Verkäufer gearbeitet. Mit Hinblick auf das, was man unter Integration versteht, gilt Victor als integriert. Er erhofft sich seit langem einen Aufenthaltstitel, doch leider kam es bis heute nicht dazu. Wieso das so ist, kann er sich nicht erklären.
Sechs Monate über zehn Jahre
Victor war ein Teenager als sein neues Kapitel in Stuttgart beginnt. Ihm ist früh bewusst geworden, dass die Besuche bei der Ausländerbehörde Priorität haben. Nach Paragraf 81 Absatz 3 (Aufenthaltsgesetz), hält er sich in Deutschland unter einem 'fiktiv erlaubten' Aufenthalt auf. Es handelt sich dabei um ein Aufenthaltsrecht, nicht um einen Aufenthaltstitel. Wenn über den Antrag eines Aufenthaltstitels keine Entscheidung fällt, stellt die Ausländerbehörde eine Fiktionsbescheinigung aus. Dass keine Entscheidung gefällt wird, kann jegliche Gründe haben. Beispielsweise, wenn der Fall aufwendig geprüft werden muss. Jedoch auch, wenn die Behörde noch nicht dazu kam, den Antrag zu bearbeiten. Die kontinuierliche Ausstellung der Fiktionsbescheinigung ist bei Victor der Fall – jedoch lebt er schon länger als ein Jahrzehnt in Deutschland.
Ein Recht auf Aufenthalt könne oft zu Komplikationen führen, besonders im Job oder der Wohnungssuche. Victor erzählt: „Es gab Arbeitgeber und Vermieter, die mich nicht haben wollten. Ein Aufenthaltsrecht, welches nur sechs Monate gültig ist, ist keine Versicherung für einen langfristigen Aufenthalt. Für niemanden, nicht einmal für mich.“ Als er beispielsweise im Jahr 2020 bei einer bekannten Supermarktkette jobbte, verlängerten Sie seinen Arbeitsvertrag nicht. Der Grund? Victors Recht auf Aufenthalt ändert sich alle sechs Monate. Bei Fehlern in der Aktualisierung seiner Akte, kann es zu rechtlichen Problemen für die Personalabteilung kommen. Insbesondere, weil seine Fiktionsbescheinigung mit seiner Arbeitserlaubnis einhergeht. Falls die Bescheinigung abläuft, ohne eine neue zu haben, darf Victor offiziell gesehen nicht arbeiten. Das ist für die Personalabteilung eine „zusätzliche Belastung“ sagte man damals zu Victor. Für Victor war die Kündigung und der Grund, ein Schlag ins Gesicht.
Die Sache mit der Ausländerbehörde
Ob hier in Stuttgart, München oder Frankfurt, dass es einen gewaltigen Antragsstau bei den Behörden gibt, ist bekannt. Die Ausländerbehörde ist die Anlaufstelle für das Thema Aufenthalt von Migranten*innen. Sie steht seit Jahren für ihre mangelnde Digitalisierung in Kritik. In Stuttgart sind zusätzlich 30 Prozent der Stellen in der Ausländerbehörde unbesetzt (Stand September 2023). Die hohe Arbeitsbelastung macht es den Mitarbeiter*innen schwer. Victor berichtet, dass der Ton mancher Sachbearbeiter*innen rau wurde. Victor meint: „Es muss schwierig sein, an einem Ort zu arbeiten, der für viele Menschen ein Ort der Hoffnung und Perspektive sein soll, wenn man ihnen diese Hoffnung nicht immer geben kann.“ Die Atmosphäre leidet unter den Umständen.
Als Minderjähriger musste Victor die Termine mit seiner Mutter wahrnehmen und koordinieren. Das war nicht immer einfach. Er musste später zur Schule und seine Mutter sich von der Arbeit freinehmen. Das stresste die Familie sehr. Wenn Victors Mutter die Zeit nicht freigestellt bekam, ging die Großmutter mit. Victor verpasste viele Stunden des Unterrichts. Anschluss zu finden war teilweise schwierig und das führte zu Einbußen in seinen schulischen Leistungen: „In den ersten Jahren hätte ich mir mehr Unterstützung und Aufklärung, von der Ausländerbehörde gewünscht“, sagt Victor. Er klingt frustriert. Seitdem er erwachsen ist, nimmt er die Termine allein wahr.
„Es muss schwierig sein an einem Ort zu arbeiten, der für viele Menschen ein Ort der Hoffnung und Perspektive sein soll, wenn man ihnen diese Hoffnung nicht immer geben kann."
„Wir bitten um Verständnis, dass die Bearbeitung einige Zeit in Anspruch nehmen wird“
Victor schmunzelt, als er über die Stunden im Warteraum erzählt: „Heutzutage ist es zwar sehr schlimm, doch auch früher wartete ich nie weniger als zwei oder sogar drei Stunden.“ Sollten sich Zugewanderte nicht auf die administrative Kompetenz der Ausländerbehörden verlassen können, könne es kritisch werden. Sobald ein Aufenthaltstitel abläuft, können Rechte eingeschränkt werden. Sei es die Arbeitserlaubnis oder das Reiserecht. Im schlimmsten Fall, kommt es zur Abschiebung. Trotz der Wichtigkeit aller Anliegen, sind die Behörden meistens telefonisch nicht erreichbar, E-Mail-Anfragen bleiben unbeantwortet.
Im Gespräch mit Marion Gentges, Ministerin der Justiz und für Migration, sagt sie: „Die hohe Arbeitsbelastung der Ausländerbehörden, beschäftigt in Baden-Württemberg alle beteiligten Ebenen. Nicht nur den Landtag, sondern auch das Ministerium der Justiz und für Migration“.
Die Probleme scheinen jedoch größer als die langen Warteschlangen. Das System soll verschachtelt und Prozesse sehr zeitaufwändig sein. Die Anträge, welche die Ausländerbehörde erreichen, erfordern nach den Umständen konkrete Prüfungen, so Frau Ministerin Gentges. Sie erklärt außerdem: „Es herrscht eine hohe Personalfluktuation. Außerdem handelt es sich beim Aufenthaltsrecht um eine hochkomplexe und komplizierte Rechtsmaterie.“
Victor hofft auf Anpassungen. Insbesondere, dass Anträge von Menschen, wie ihm, die bereits länger in Deutschland leben, genauer geprüft werden.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Victor hat das Gefühl, dass seine Anträge auf Aufenthaltstitel nicht bearbeitet werden. Laut ihm, ist seine Akte bei der Ausländerbehörde dick. Es benötige einen hohen Aufwand in der Prüfung seiner Anträge. „Ich bin mir sicher, dass in meinem Fall die Ausstellung der Fiktionsbescheinigung der schnellste Weg ist“, meint er enttäuscht. Auch wenn es Victor im Großen und Ganzen gut geht, ist es nicht immer leicht. Er ist davon überzeugt, dass sein Werdegang in Deutschland für einen ordentlichen Aufenthaltstitel reichen sollte. Er befürchtet, dass die Anträge weiterhin nicht zum ersehnten Ergebnis führen. Hoffnungsvoll blickt er in die Zukunft. Eine Zukunft, in der er in Deutschland als integrierter Bürger angesehen wird.
Die Redakteurin steht in freundschaftlicher Beziehung zum Protagonisten.