"Mir persönlich ist es wichtig, Themen mit gesellschaftlicher Relevanz zu behandeln, das finde ich sehr spannend."
„Ich finde es wichtig, dahin zu schauen, wo andere nicht hingucken“
Alina Schulz ist Reporterin und stellvertretende Redaktionsleitung bei Y-Kollektiv. Ihren Schwerpunkt setzt sie auf Investigativ-Reportagen. 2021 gewann sie mit dem YouTube-Film „Ungewollt nackt im Netz“ den Axel-Springer Preis für jungen Journalismus in der Kategorie Gold. Sechs Monate hat sich Alina Schulz für die Recherche des Films an den schmutzigsten Orten des Internets herumgetrieben. Dabei merkte sie schnell, dass viel mehr als nur das Phänomen „Revenge Porn“, also ein Rache-Akt dahinter steckt und die Täter*innen nicht nur Expartner*innen sind.
Im Film „Ungewollt nackt im Netz" hast du dich auch real mit Frauen getroffen. Was geht dir denn vor solchen Treffen durch den Kopf?
Man ist natürlich zunächst einmal sehr aufgeregt und angespannt. Aber es ist irgendwie auch surreal, weil das alles ein Stück weit so zufällig passiert. Man recherchiert und findet Hinweise im Netz. Dann kommt der Moment, in dem die Story-Idee zur Realität und gedreht wird. Das sind dann meistens lange Arbeitstage. Man erlebt im Laufe eines solchen Tages viel mehr, als man im Film erzählen kann. Es ist ein Mix von Emotionen, sowohl im Vorfeld als auch im Nachgang.
Was waren deine größten Erfolge bei der Recherche von „Ungewollt nackt im Netz“?
Ich habe mit vielen Frauen Kontakt aufgenommen, die ich auf den Plattformen finden konnte. Einige haben erst durch mich erfahren, dass sie dort inklusive ihres Namens und ihrer Adresse zu sehen sind. Durch meine Hinweise konnten dann tatsächlich auch manche Täter verurteilt werden. Das ist natürlich ein Erfolg, auf den man auch ein bisschen stolz sein kann.
Hattest du dann auch schon mal die Gedanken äußere Instanzen wie die Polizei dazuzuschalten?
Ja, solche Gedanken hatte ich schon oft. Das ist dann immer eine schwierige Abwägung. Als Journalistin ist es eigentlich nicht meine Aufgabe, der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen. Es gab aber durchaus schon Fälle von schweren Straftaten, sodass wir in Kontakt mit der Polizei getreten sind. Grundsätzlich achten wir sehr darauf, unsere Quellen zu schützen.
Bei deiner Arbeit für Y-Kollektiv kommst du nicht selten mit Themen in Berührung, von denen andere Medienanstalten eher Abstand halten. Das stellt eure Redaktion doch sicherlich vor Herausforderungen, oder?
Ja, auf jeden Fall. Ich mache vorallem verfilmte Recherchen und das ist immer schwierig. Die Video-Reportage geht davon aus, dass man auch bildlich eine spannende Ebene entstehen lässt und der Reporter etwas vor der Kamera erlebt. Ich behandle vor allem Themen rund um das Internet. Bei mir fragt die Redaktion immer: „Was sehen wir denn da außer dem Bildschirm?“ Ich finde es interessant, mich gerade dann damit zu beschäftigen, wie man sie spannend erzählen kann. Man braucht dazu den Übergang von Szenen vor dem Bildschirm und einer Internet-Welt bis hin zu Personen, die im realen Leben davon betroffen sind. Genau das ist dann eine Herausforderung.
Wie sieht der Arbeitsalltag in der Redaktion von Y-Kollektiv aus? Hat man auch regelmäßig Redaktionskonferenzen?
Bevor ich bei Y-Kollektiv angefangen habe, war meine Vorstellung, dass immer alle Reporter*innen zusammensitzen. In der Realität ist es anders. Wir haben unseren Hauptstandort in Bremen und arbeiten mit vielen freien Autor*innen und Journalist*innen zusammen. Sie sind meistens überall auf der Welt verteilt. Wir haben Leute in Berlin, aber auch in Südamerika. In Bremen sind es dann aber meistens nur drei Leute inklusive mir. Unterstützt werden wir noch von drei betreuenden Redakteur*innen von Radio Bremen. Einmal in der Woche haben wir eine CvD-Konferenz zu dritt. CvDs sind Chef vom Dienst, sie haben die Verantwortung für die Produkte der Redaktion. In den Konferenzen sprechen wir dann über verschiedene Themenvorschläge aus unserer Community. Oder wir überlegen, wo bei aktuellen Recherchen Probleme auftauchen, das sind zum Beispiel Jugendschutz und juristische Abnahmen. Nebenbei müssen wir immer gucken, wo sich vielleicht eine neue Geschichte auftut. Freitags haben wir noch eine gemeinsame Konferenz mit Radio Bremen, unserer betreuenden Sendeanstalt und deren Redakteur*innen. Da tragen wir noch mal die wichtigsten Themen aus unserer CvD-Konferenz vor.
In deinen eigenen Reportagen behandelst du auch ziemlich krasse Themen. Wie kommen die zustande?
Die meisten Themen sind tatsächlich aufgegriffene Ideen. Bei Y-Kollektiv bekommen wir auch ganz viele Zuschriften aus unserer Community, die mittlerweile aus über einer Million Leuten besteht. Zum Beispiel haben wir eine Reportage über Prostitution auf Kleinanzeigenportalen gemacht. Diese basierte auf dem Hinweis von Menschen unserer Community, die sich direkt an uns gewandt haben. Mir persönlich ist es wichtig, Themen mit gesellschaftlicher Relevanz zu behandeln, das finde ich sehr spannend. Und ich finde es auch wichtig, dahin zu schauen, wo andere vielleicht nicht so gerne hingucken, auch wenn das manchmal belastend und nicht unkompliziert ist.
Die Recherche zu „Ungewollt nackt im Netz" war an sehr vielen Stellen schwierig und teilweise auch erfolglos, deprimiert dich so etwas nicht?
Ja, klar. Die Recherche hat sich ungefähr auf sechs Monate erstreckt und war ein stetiges Auf und Ab. Hin und wieder findet man einen Baustein und denkt, dass jetzt der Stein ins Rollen kommt. Aber dann kommt man wieder nicht weiter. Sowas nimmt einen mit. Dann ist man manchmal auch nervlich ziemlich am Ende. Wir haben bei uns die Möglichkeit, psychologische Coachings in Anspruch zu nehmen. Bei krassen Recherchen halte ich es für sinnvoll, sich diese Unterstützung zu holen.
Kannst du während solcher Recherchen auch mal abschalten?
Das ist immer schwierig. Die Recherche „Ungewollt nackt im Netz“ war 2020 und voll in der Corona–Zeit. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, meine Work-Life-Balance wäre damals intakt gewesen. Ich glaube, es lag vor allem daran, dass ich fast nur zu Hause war und dort viel Zeit hatte. Heute versuche ich strikter zwischen Arbeit und Privatleben zu trennen. Ich bin festangestellt und habe eigentlich klare Arbeitszeiten. Die versuche ich, so gut es geht, einzuhalten. Der Journalismus kennt zwar nur selten feste Arbeitszeiten, aber es ist wichtig, sich Auszeiten zu nehmen. Nach einer langen Arbeitsphase sollte man sich immer wieder ein paar Tage freinehmen und Self-Care, gute Ernährung und Sport im Blick haben.
Gab es auch schon brenzlige Situationen?
Wir achten immer sehr darauf, dass niemand von uns allein in solche Situationen reingeht. Wir sind immer mindestens zu zweit. Die Redaktion ist jederzeit darüber informiert, wo und bei wem wir gerade sind. Ein konkretes Beispiel ist die Reportage Taschengeld-Treffen. Da gab es einen Mann, mit dem ich verdeckt geschrieben habe und mich als Minderjährige ausgegeben habe. Er wollte mich unbedingt treffen. Als ich dann seine Adresse und den Namen bekommen hatte, bin ich sofort zu ihm gegangen. Mir war klar, dass ich auf jemanden treffe, der vielleicht bereit ist, Kinder zu missbrauchen. Deshalb war noch eine weitere Person dabei, die in ständigem Kontakt mit der Redaktion war. Außerdem hatte meine Redaktionsleitung den Namen des Mannes. Es muss dann einfach für ein gewisses Maß an Sicherheit und Vernunft gesorgt werden.
Wie schaffst du es, bei solchen Themen objektiv zu bleiben und den professionellen Abstand zu wahren?
Das ist einfach mein Job. Ich habe als Journalistin das Interesse, Antworten auf Fragen zu finden. Ich könnte dem Menschen bei der ersten Begegnung eine Ansage machen, aber das ist nicht zielführend und auch nicht meine Rolle in dem Moment. Ich will herausfinden, was genau im Kopf meines Gegenübers vorgeht. Wenn das Ziel ist, ernsthafte Antworten zu finden, ist es wichtig, den Menschen dafür auch auf Augenhöhe zu begegnen. Aber wir bei Y-Kollektiv haben gar nicht den Anspruch, immer komplett objektiv zu sein. Y-Kollektiv zeichnet sich dadurch aus, dass wir in den richtigen Momenten auch unsere eigenen Haltungen in die Berichterstattung einfließen lassen. Das machen wir bewusst so, weil wir authentisch und ehrlich sein wollen. Am Ende kann sich jede*r trotzdem noch seine eigene Meinung bilden. Uns ist es wichtig, mit dem Publikum zu interagieren. Deshalb geben wir ihnen die Möglichkeit, eine Woche nach der Veröffentlichung in Videos Fragen zu stellen und wir gehen dann auf die Fragen ein und stellen uns auch der Kritik.
„Ich will herausfinden, was genau im Kopf meines Gegenübers vorgeht. Wenn das Ziel ist, ernsthafte Antworten zu finden, ist es wichtig, den Menschen dafür auch auf Augenhöhe zu begegnen.“
In letzter Zeit gab es viel Kritik auch an den Inhalten von Funk. Lässt du sowas an dich ran?
Ein Hauptkritikpunkt von Zuschauer*innen ist, dass es viele verschiedene Funk-Formate gibt, die ähnliche Themen machen. Da liegt dann aber die Zuständigkeit bei Funk, die dazu Stellung beziehen müssen. Klar setzt man sich damit auch auseinander, aber ich finde, man muss alles auch sehr differenziert betrachten und schauen, aus welchen Ecken welche Kritik kommt. Berechtigter Kritik muss man sich dann stellen. Aber das verschwimmt manchmal leider auf YouTube. Viel Kritik kommt von rechten Medien und Trollen. Manchmal driftet es dann auch in den Kommentarspalten ab, sodass es kein inhaltlicher Diskurs mehr ist, sondern man uns einfach schaden will. Wenn es Kritik an Filmen ist, die wir gemacht haben, dann beschäftigen wir uns intensiv damit. Generelle Kritik an Funk nehme ich zur Kenntnis und beschäftige mich damit, aber weiß auch, dass ich mich nicht zu allem rechtfertigen muss.
Wie gehst du damit um, wenn deine Videos nicht so gut bei den Zuschauer*innen ankommen wie erhofft?
Ich hatte diesen Fall schonmal. Da habe ich eine Reportage über Kinder-Sexpuppen gemacht, da bin ich im Rahmen meiner Recherche zu „Ungewollt nackt im Netz“ drauf gestoßen. Wenn man da einmal anfängt zu gucken, findet man sehr viel. In diese Recherche habe ich echt viel Arbeit reingesteckt. Als diese Arbeit dann nicht so gut ankam, habe ich mich natürlich geärgert. Du willst einfach, dass Leute das sehen, damit man auch weiß, es hat sich gelohnt. Je mehr Menschen über das Thema diskutieren, desto besser ist es. Das ist so ein bisschen die Kunst im Journalismus, Themen zu finden, über die man gut diskutieren kann. Bei Plattformen wie YouTube, können wir nicht genau sagen, wie der Algorithmus funktioniert. Es gibt keine klaren Regeln, nach denen man gehen kann. Bei dem Thema mit den Kinder-Sexpuppen vermuten wir, dass es YouTube vielleicht zensiert oder kaum in die Timelines gespült hat. Das Gute ist, dass wir bei Y-Kollektiv nicht auf krasse Klickzahlen angewiesen sind, weil wir ein öffentlich-rechtliches Format und kein privates Unternehmen sind, das von Werbeeinnahmen abhängig ist. Trotzdem sind diese Zahlen ein Indikator, wie erfolgreich ein Format ist.
Dieses Interview fand am 21.06.2023 im Rahmen der edit-Gesprächsreihe „ Investigativer Journalismus" online statt. Die Autor*innen haben das Gespräch vorbereitet und moderiert. Zusätzlich hatten die anwesenden Studierenden des Studiengangs Crossmedia-Redaktion/ Public Relations die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Diese tauchen an einigen Stellen im Interview auf.