„Als Kind wollte ich Raketenbauer werden. Dann habe ich gemerkt, dass mein Genie nicht in der Mathematik liegt.“
Hinter Gittern Menschen helfen
Der Wind peitscht Wolfgang Brüwer an diesem kalten Morgen den Regen ins Gesicht. Schnell rein. Vorbei an der Pforte und durch mehrere, kugelsichere Türen. Eine steile Treppe führt hoch zu einer großen, schweren, dunklen Tür. Der Schriftzug „Krankenflügel“ verrät, was sich dahinter verbirgt. „Eintritt einzeln und nur nach Aufforderung“, steht auf einem Schild darunter. Der prall gefüllte Schlüsselbund eines Justizvollzugsbeamten klirrt, als er einen der großen Schlüssel zückt und die Tür aufschließt. Es ist still in dem Flügel. Nur der Baulärm von unten dringt dumpf herauf. Drei weitere Türen. „Röntgenraum, Wartezimmer, Behandlungszimmer“, steht in alter deutscher Schrift geschrieben. Keine der Türen steht offen. Das ist die goldene Regel hier: Die Tür wird immer zugemacht. Im Behandlungszimmer riecht es nach Desinfektionsmittel. In der Mitte steht eine graue Untersuchungsliege mit weißer Papierauflage. Daneben ein großer Schreibtisch, ein paar Schränke und Stühle. Ansonsten nur blanke, weiße Wände. Hinter den Fenstern sind dicke Gitter angebracht. Zwischen diesen blickt man hinunter in einen großen Innenhof. Stacheldraht säumt die Mauern ringsum.
Die Justizvollzugsanstalt (JVA) Bruchsal war früher ein sogenanntes Männerzuchthaus. Bis heute sind die Inhaftierten ausschließlich männlich. Momentan gibt es rund 450. Nach Stand 2016 ist die JVA Bruchsal als drittgrößte Justizvollzugsanstalt auch verantwortlich für erwachsene Männer mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr und drei Monaten. Sie gehört zu den Langstrafanstalten. Besonders signifikant für das Gefängnissystem in Bruchsal ist der strahlenförmige Bau. Deshalb wird die Anstalt auch oft der „Stern zu Bruchsal“ genannt.
Das Behandlungszimmer gehört heute Dr. Wolfgang Brüwer. Er ist orthopädischer Konsiliararzt in der JVA Bruchsal.
Ein Konsiliararzt ist ein Facharzt, der bei einem unklaren Krankheitsfall als zweiter Arzt von dem behandelnden Arzt zur Beratung hinzugezogen wird.
Quelle: Duden
„Als Kind wollte ich Raketenbauer werden. Dann habe ich gemerkt, dass mein Genie nicht in der Mathematik liegt“, schmunzelt er und streicht seinen weißen Kittel glatt. „Mit 14 bin ich mit einer Blinddarmreizung ins Krankenhaus gekommen. Der Chefarzt hat mich zwei Tage später operiert. Den habe ich bewundert“, haucht Brüwer andächtig. „So möchte ich auch gern sein“, habe er gedacht. Bis ins Rentenalter arbeitete Brüwer als Unfallchirurg in seiner eigenen Praxis in Bruchsal. Irgendwann kontaktierte ihn die JVA bezüglich einer konsiliarischen Beratung auf Abruf. Mittwochs in seiner Mittagspause hatte er keine Sprechstunde. In der Zeit behandelte er die Häftlinge. Für chirurgische Eingriffe wurden diese in seine Praxis gebracht. Seit dem Verkauf seiner Praxis 2016 arbeitet der 74-Jährige Dienstagvormittags im Gefängnis. „Nicht wegen des Verarmungswahns, der älteren Ärzten gerne zugesprochen wird, sondern weil es mir Spaß macht.“
„Der nächste kommt“, ruft Justizvollzugsbeamter und Krankenpfleger Christian Dengel ins Behandlungszimmer. Er bringt die Häftlinge zum Krankenflügel. Ein Mann mittleren Alters betritt den Raum. Er hat eine Glatze, einen krausen, dunklen Bart, Ohrringe und viele Tattoos. „Ich brauch' noch kurz einen Moment“, sagt Brüwer und macht sich Notizen zum letzten Patienten. „Alles gut. Ich hab’ genug Zeit. Ein Jahr und fünf Monate“, scherzt der Gefangene. Er ist wegen einer schmerzenden Schulter gekommen. Nach der detailreichen Schilderung seiner gesundheitlichen Vorgeschichte, schlägt er Tilidin als Medikament vor. „Ich nehm's nicht wegen meiner Abhängigkeit. Das habe ich ja im Griff“, beteuert er. Eine Tablette Tilidin habe hier auf dem Schwarzmarkt einen ungefähren Handelswert von acht Euro, erklärt der Arzt.
Keine Handschellen bei der Behandlung
Bei einer Behandlung muss immer mindestens ein Beamter dabei sein. Die JVA Bruchsal ist aufgrund ihres hohen Sicherheitsstandards zuständig für besonders gefährliche und gemeinschaftsunfähige Gefangenen. Die meisten Insassen sind in Einzelzellen untergebracht. Trotzdem trägt keiner Handschellen. „Wenn jetzt ein ganz böser Hammer käme, dann könnte schon auch mal sein, dass der Handfesseln anhat“, äußert Brüwer. Er habe einst einen RAF-Terroristen behandelt. „Sie kamen mit drei Einheiten Sondereinsatzkommando und vier Mann standen mit der Maschinenpistole um die Praxis herum. Einer war im Flur, einer war im OP dabei. Den haben Sie mit Ketten am OP-Tisch festgebunden.“ Das sei das einzige Mal gewesen, dass ein Patient gefesselt wurde.
Der Patient war Mitglied der sozialrevolutionären terroristischen Organisation „Rote Armee Fraktion (RAF)“. Im Jahr 1985 wurde er vom Oberlandesgericht Stuttgart wegen neunfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Jahr 1992 gab es noch eine weitere Verurteilung. Am 17. Mai 2010 wurde er aus der Justizvollzugsanstalt Bruchsal entlassen.
Moralische Herausforderungen beim Umgang mit Schwerverbrechern
„Ich sehe in ihnen nicht den Straftäter, sondern den Patienten“, versichert der Arzt. „Trotzdem habe ich es mir anfangs immer zur Regel gemacht, nicht hier reinzugucken.“ Er deutet auf einen Stapel hellgrüner Pappakten, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegen und schlägt die oberste auf: Totschlag. Gefährliche Körperverletzung. Mittlerweile kennt er die Delikte seiner Patienten. „Ich bin länger im Knast als die meisten von denen“, bemerkt Brüwer. Mit vielen habe er über die Jahre ein gutes Verhältnis aufgebaut. Die Häftlinge seien froh und dankbar, dass er sich unvoreingenommen um ihr medizinisches Problem kümmert. Das habe er schon oft von ihnen gehört. Trotzdem ist ein Arzt auch nur ein Mensch. „Ich habe natürlich wenig Lust auf Vergewaltiger und Kindesmissbraucher“, gesteht Brüwer. Er habe festgestellt, dass sein Enthusiasmus in solchen Fällen ein wenig schwindet. Trotzdem sei es stets sein Ziel, dem Patienten gerecht zu werden. Er begegnet ihnen freundlich und auf Augenhöhe. Keine Spur von Vorurteilen.
„Ich sehe in ihnen nicht den Straftäter, sondern den Patienten.“
Mit der Angst zu tun bekommen hat es Brüwer im Laufe seiner Karriere im Gefängnis ein paar Mal. Das letzte Mal liegt wenige Jahre zurück. Er behandelte einen Verbrecher, der einen besonders schockierenden Mord begangen hat. In der folgenden Audiodatei beschreibt Brüwer, wie er sich in der Situation gefühlt hat.
Ärztemangel in Gefängnissen
Im Jahr 2022 waren bei den Landesärztekammern rund 421.000 Ärzte gemeldet, so die Bundesärztekammer. Problematisch ist die steigende Teilzeitquote, die fehlenden Studienplätze und die alternde Gesellschaft. Laut Vizepräsidentin der Bundesärztekammer Dr. Ellen Lundershausen wird der Mangel in den kommenden Jahren voraussichtlich steigen. Daher sind die Justizvollzugsanstalten des Landes ebenfalls betroffen. Das zeigen auch die Stellenausschreibungen auf deren Websites.
Aktuell ist nur Dr. Alexa von Schmiesing als beamtete Ärztin in der JVA Bruchsal beschäftigt. Die Dermatologin kommt einmal im Monat, der Psychiater alle zwei Wochen und der Zahnarzt jede Woche. Es werde händeringend nach Gefängnisärzten gesucht, bestätigt Brüwer. Obwohl der Arbeitsalltag hier viel besser planbar sei als in einer Klinik. Man könne die Arbeitszeiten flexibler gestalten. Außerdem brauche man keine separate Ausbildung, um als Arzt im Gefängnis zu arbeiten. „Es wäre sicher auch eine Erfahrung, sowas vorübergehend zu machen. Ein paar Jahre“, sagt Brüwer.
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Die Tür geht auf. Dengel kommt schnellen Schrittes herein. Es ist kurz vor eins. Kurz vor Feierabend. „Es kommt doch noch einer. Abszess hinterm Ohr“, kündigt er den letzten Patienten für heute an. Wenig später sitzt ein Mann mit dunkler Lockenmähne im Behandlungszimmer. Brüwer schiebt die Haarpracht zur Seite, um sich die entzündete Stelle anzusehen. „Brauchst du Licht, Wolfgang?“, fragt Dengel, während er im großen Schrank in der Ecke herumkramt. „Licht? Nein, mit Licht kann’s jeder“, antwortet Brüwer. Der Häftling lacht herzhaft. Die Stimmung ist locker und entspannt. Brüwer legt die Pinzette weg. Es war nur ein eingewachsenes Haar. Keine große Sache.
Brüwer zieht seinen weißen Kittel aus. Seine Arbeit ist für heute getan. Er verlässt den Krankenflügel durch die große, schwere, dunkle Tür und geht die steile Treppe hinunter. Freudig läuft er aus der Anstalt heraus ins Freie. Den trüben Nachmittag wird er im Fitnessstudio verbringen.