„Es geht darum, Spaß zu haben, Prinzipien zu lösen und dass wir alle in der Zukunft erwachsen werden.“
Frei auf der Bühne

Eine Stimme erklingt, begleitet von einer sanften Melodie. Dann Stille. Plötzlich beginnt sich ein Kleiderhaufen mitten auf der Bühne zu bewegen. Eine Gestalt taucht auf, befreit sich aus den Stoffmassen. Die Musik wird laut. Aufregend.
Theaterhaus Stuttgart, Halle T4. Ein kleiner Theatersaal, maximal hundert Plätze. Schwarzer Boden, schwarze Wände, schwarze Klappstuhlreihen. Nur die Scheinwerfer werfen spärliches Licht in den Raum.
Generalprobe. Der Saal ist fast leer. Auf der Bühne jedoch hat sich eine kleine Gruppe versammelt. Ismene Schell, die Regisseurin, gibt letzte Anweisungen. Dann steigt sie, fast schwebend, die Treppenstufen im Zuschauerraum hinauf – ohne Schuhe, nur in Strumpfhose. Sie nimmt neben den Theatertechnikern Platz, die in der letzten Reihe versteckt hinter einem Pult sitzen. Das Licht wird gedimmt, der Saal verdunkelt sich. Drei Metallzäune stehen auf der Bühne, Baustellenabsperrungen, umwickelt mit Lichterketten. Ein diffuses Leuchten. Dahinter: drei verstreute Kleiderhaufen. Was verbirgt sich wohl unter ihnen?
Die Befreiung
Fantasy ist die Erste, die sich befreit. Sie tappt über die verstreuten Kleider. Dann regt sich auch der rechte Kleiderhaufen – Nina taucht auf. Die Musik weiterhin laut. Die Frauen greifen nach den Kleidern, schleudern sie in die Luft. Die Szene wird wild, rhythmisch, passend zur Musik.
Fantasy und Nina huschen zum letzten Kleiderhaufen, der noch regungslos am linken Baustellenzaun liegt. „Marcio, es ist Zeit, erwachsen zu werden. Zeit, deine Kuscheltiere ins Waisenhaus zu bringen“, fordert Fantasy ihn auf. Einen Moment lang passiert nichts. Dann regt sich der Stoff, auch Marcio befreit sich.
Szene 6. Alle warten darauf, dass Marcio seinen Text spricht. Doch er bleibt stumm. Stille. Nichts passiert. Jule, die Theaterpädagogin, schleicht am linken Zaun entlang zu ihm hinüber. Er sitzt noch immer regungslos da, den Kopf gesenkt, das Kuscheltier fest umklammert. Sie flüstert ihm etwas zu. Marcio schüttelt den Kopf. Pause.
Die Probe wird unterbrochen. Musik aus, Licht an. Alle warten. Auch Ismene gleitet in ihren Strümpfen zur Bühne. „So können wir nicht weitermachen, Lin“, sagt sie. Damit ist Marcio gemeint, der im Theaterstück von Lin verkörpert wird. Minuten vergehen. Dann hebt Lin den Kopf, nickt. Ein Zeichen. Es kann weitergehen. Ismene ist geduldig. Sie muss es sein. Sie erklärt, dass es keinen Sinn mache, die Darstellerinnen zu etwas zu zwingen. Wenn sie den Text nicht sprechen würden, dann, weil es sie im Moment eben nicht interessiere.
Ismene hat da eine harte Schule hinter sich. Lin ist ihre Tochter.
Hinter den Kulissen
Nach der Probe. Fantasy und Nina verschwinden in ihre Gardaroben. Es ist spät, alle sind erschöpft. Fantasy, die eigentlich Anne heißt,zieht eine Tüte Fruchtgummis aus ihrer Tasche – die blauen, nicht die bunten. Nina packt belegte Brote aus. Abendbrot. Verdient. Endlich können die Girls ihrer wohlverdienten Pause nachgehen. Die drei Frauen mit ganz unterschiedlichen Talenten: tanzen, singen, schauspielern. Die Figur Nina wird dabei von Janina verkörpert. Ein Castingaufruf brachte Anne und Janina in das Projekt, das Regisseurin Ismene mit ihrer 19-jährigen Tochter begonnen hat.
Anne liebt das Singen. „Mein Traum ist es, Sängerin zu werden. Am meisten mag ich Disneylieder. Ich liebe Disney“, erzählt sie stolz. Anne selbst hat bereits reichlich Bühnenerfahrung – Gardetanzen, Steptanzunterricht, Theater und Musical. Sie ist auf der Bühne zu Hause. Hier fühlt sie sich frei. Im Stück gehe es vor allem ums Erwachsenwerden und darum, sich von den Eltern zu lösen, erzählt Anne. Es gehe darum Spaß zu haben, Prinzipien zu lösen und dass alle in der Zukunft einmal erwachsen werden würden, fügt sie hinzu.
Auch Janina steht gerne auf der Bühne. Sie hat im Chor gesungen, spielt Geige und Blockflöte und war – ebenso wie Anne – bereits in Musicalproduktionen zu sehen. Doch ihr größter Traum liegt woanders: Sie möchte im Jugendhaus arbeiten. Derzeit absolviert sie eine Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin im Jugendhaus Warmbronn. „Ich will auf mich selbst achten, essen und trinken – das ist das Wichtigste überhaupt“, sagt Janina selbstbewusst und beißt in ihr Brot. Dann betritt auch Lin die Umkleidekabine. Erschöpft, müde – doch alle sind gespannt auf die morgige Premiere. Und worum geht es nun genau in GiRRRRls? „Stronggirls, weil wir eine Bande sind“, sagt Lin entschlossen.
Anne, Janina und Lin: echte Powerfrauen. Genau das wollte Ismene auf die Bühne bringen, erzählt sie. GiRRRRls sei das erste Projekt der freien bühne Stuttgart, in dem ausschließlich Frauen mit Behinderung im Rampenlicht stehen. Anders als im mixedability ensemble, wo alle gemeinsam mit oder ohne Einschränkungen auf der Bühne spielen. Das Thema Powerfrauen sei ihr besonders wichtig. „Lin ist neunzehn. Du kennst bestimmt viele 19-Jährige, die totale Probleme haben, die sich schämen. Und im Vergleich dazu haben diese Frauen eine Stärke und Selbstverständlichkeit", erzählt Ismene. Diese positive Ausstrahlung wolle sie auf die Bühne bringen.
Und? Sind jetzt alle müde? Anne lacht. „Dein Ernst? Schlafen macht man zu Hause!“
Freiheit ist limitiert
Zuhause. Auch dort wollen Anne, Janina und Lin ein selbstständiges Leben führen. Sie leben alle bei ihren Eltern und werden im Alltag von ihnen unterstützt. Neben Janina arbeiten auch Anne und Lin. Ein kleines Stück Selbstständigkeit.
Ein weitaus freies Leben, das ist für Menschen mit geistigen oder körperlichen Einschränkung kaum möglich. Einrichtungen wie die BruderhausDiakonie Stuttgart bieten betreute Wohnmöglichkeiten. Die Behindertenhilfe betreut aktuell 23 Menschen mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen. Hierzu gehören auch Menschen mit Down-Syndrom. Simon Fischer ist dort Leitender Mitarbeiter in der Sozialpsychatrie. Er begleitet die Bewohner*innen Tag für Tag. Er spricht von einer Gratwanderung. Besonders für Menschen mit Einschränkungen sei Freiheit grundsätzlich limitiert. Es brauche häufig jemanden, der sie begleite, der etwas plane und unterstütze. Doch das Ziel der Einrichtungen sei es trotz allem, größtmögliche Selbstständigkeit zu schaffen. Fischer meint: „Ich sage immer so ein bisschen salopp: So viel Hilfe wie nötig, aber so wenig wie möglich.“ Dabei lächelt er.
Projekte wie Theaterstücke, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen eine Bühne bekommen, sieht Fischer als Möglichkeit, auf die Lebensrealitäten dieser Menschen aufmerksam zu machen. Dabei betont er jedoch, dass dies mit Feingefühl geschehen müsse. Man dürfe sie nicht zu einer Art Vorzeigeprojekt machen und deren Erkrankung in den Mittelpunkt rücken.
„Wir dürfen sie nicht zu einer Art Vorzeigeprojekt machen und sagen: Schaut mal, hier ist jemand mit einer Erkrankung.“
Auch Ismene nimmt diese Gratwanderung zwischen Unabhängigkeit und Abhängigkeit bewusst wahr. Sie beschreibt, dass das Thema Ablösen bei GiRRRRls von Anfang an das Dauerthema gewesen sei. „Es ist dieser Drang, auch diese sprachliche Äußerung von Freiheitswillen, Selbstbestimmung, und auf der anderen Seite: Die Eltern sind immer dabei. Wann kommen meine Eltern?“, erzählt Ismene. Dass auch ihre Tochter Lin immer auf Hilfe angewiesen sei, macht Ismene nachdenklich. Manchmal könne das einem das Herz zerreißen. Sie stellt aber auch klar, dass Theater keine völlige Emanzipation ermögliche. Alle Beteiligten seien voneinander abhängig und letztendlich entscheide sie als Regisseurin. Dennoch sieht sie einen wichtigen Moment der Selbstbestimmung in ihrer Arbeit: „Ich bin froh, dass wir einen Rahmen geschaffen haben, den die drei auch meistern. Denn ab da, wo sie auf der Bühne sind, haben sie die Macht.“
Auf der Bühne scheinen Anne, Janina und Lin frei sein zu können.
Der große Tag
Zurück in der Halle T4. Der Saal füllt sich. Reihe 4, Platz 6, der perfekte Blick auf die Bühne. Die Zäune, die Kleiderhaufen, alles wie am Tag zuvor. Das Licht geht aus. Das Murmeln des Publikums verebbt. Es beginnt. Musik ertönt.
Anne ist wieder die Erste, die sich befreit. Ihr Körper bewegt sich kraftvoll, als würde sie die Fesseln abstreifen. Dann folgt Janina, und schließlich auch Lin. Die Bühne explodiert in Bewegung. Es wird laut. Janina und Anne liefern sich eine Partie Armdrücken, Lin verausgabt sich am Boxsack, lässt ihrer Wut freien Lauf. Sie springen, wechseln ihre Rollen, tauchen ein in neue Welten. Und dann ein Moment Gänsehaut.
Das Publikum ist still. „Zärtlichkeit. Hören. Meine Traurigkeit. Schmerz“, Lins Worte reißen das Publikum mit. Dann ist es plötzlich ganz still. Es folgt Applaus. Trotz der Energie, der lauten Musik, den fröhlichen Momenten, den Lachern und dem Applaus, bleibt die Ernsthaftigkeit des Stücks in der ganzen Halle spürbar – bis in die letzte Reihe der Tribüne. Janina, im zarten rosafarbenen Spitzenkleid, lehnt sich an den Zaun und spricht mit sanfter Stimme: „Ich bin ein Stein. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Ich bin in der Dunkelheit. In der Dunkelheit herrscht das Chaos.“ Ihre Augen treffen die der Zuschauer*innen, ziehen sie in ihren Bann.
Letzte Szene. „Ihr süßen Menschen, ich komme, weil ich euch liebe“, sagt Anne. Dann schiebt sie den Zaun zur Seite. Sie hat sich befreit aus dem Gefängnis. Zwei Meter Abstand zum Publikum. Annes letzter Einsatz. Sie singt ihr Lied. Dann reicht sie Janina das Mikrofon. Auch sie singt ihre Zeilen, ihre Geschichte. Als Lin es auch endlich geschafft hat, wird noch einmal richtig Party gemacht. „Come on, are you ready, schwing deine Hüfte“, ruft sie und feuert das Publikum an mitzumachen. Alle stehen auf, klatschen und die Halle T4 bebt. Lin tanzt, die Hüften kreisen, als würde niemand zusehen. Doch alle Augen sind auf sie gerichtet. Das Publikum klatscht im Takt. Standing Ovations. Die Musik stoppt. Der Applaus jedoch geht weiter.
Es werden Blumen überreicht. Die Schauspielerinnen bedanken sich bei ihrem Publikum. Die Freude in ihren Augen, das Glitzern, strahlt durch den ganzen Saal. Nach dem Auftritt kehren sie zurück ins Leben. Ihre Eltern sind da, sie fahren nach Hause, zurück in die Welt, in der sie weiterhin auf Hilfe angewiesen sind. Sei es bei Arztbesuchen oder beim alltäglichen Bahnfahren.
Ismene ist froh im Theater einen Raum schaffen zu können, in dem diese Menschen ihre Gefühle zulassen können und ihre Befindlichkeiten nicht leugnen müssen. Gleichzeitig sei es eine große Herausforderung, denn die Bühne sei kein Schonraum. „Ich sage auch nicht: Kommt zu uns, denn hier könnt ihr sein. Oh Gott, Bühne ist knallhart, weil da auch die Zuschauer sind, für die wir auch verantwortlich sind“, erklärt sie.
Eine Gratwanderung. Doch die Message von den GiRRRRls ist klar, unmissverständlich: „Ich stehe hier bei mir. Das ist mein Leben. Ich gehör nur mir.“
Freiheit. Sie alle wollen frei sein. Auf der Bühne sind sie es. Und wenn auch nur in diesem einen Moment, in diesem kleinen Theatersaal, in der Halle T4.
Informationen zur Reportage
Die freie bühne stuttgart wurde 2005 als freies sprechtheater gegründet. 2013 ist zusätzlich das mixedabilty ensembles entstanden. Auch internationale Zusammenarbeit wird in der freien bühne gefördert.
Das Theaterstück GiRRRRls - Drei Frauen erobern Stuttgart feiert sein Comeback am 29. und 30. April 2025 im Theaterhaus Stuttgart.