Europa steckt in Stuttgarts Straßen
Eine Großbaustelle direkt neben der Wohnung – die hat Roswitha Mehne im Stuttgarter Europaviertel an der Athener Straße. Trotzdem fährt sie jeden Tag mit dem Kinderwagen ihre Zwillinge durch die Nachbarschaft: „Sie schlafen hier am besten.“ Eine Decke schirmt die Mädchen von der Welt ab. Nur die Füße schauen heraus. „Ich würde niemals umziehen.“ Hier sei der perfekte Standort: Es ist nicht weit zum Bahnhof, zum Einkaufen und zur Bibliothek. Die Baustelle nebenan – die höre sie in der Wohnung nicht. Eine Nachbarin sei aus Frankreich und viele aus der Türkei. „Ich glaube, was es am europäischsten macht, sind die Straßennamen“, sagt die 34-Jährige. Sie denkt, dass diese Gegend bei ihrem Einzug 2012 noch nicht Europaviertel hieß.
„Die Bezeichnung Europaviertel gibt es seit dem 1. Juli 2007 – vorher war das Gebiet Teil des Stadtteils Hauptbahnhof“, sagt Andrea Schliwowski vom Haupt- und Personalamt. „Die Idee, die Straßen und Plätze nach europäischen Metropolen zu benennen, stammt vom damaligen Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster.“ Seit 1998 steht fest: Die U-Bahnhaltestelle und Plätze tragen Budapest, Mailand, Paris und Stockholm im Namen – die Straßen Moskau, London, Oslo, Warschau, Athen, Lissabon und Kopenhagen.
Vorschläge für Straßennamen kommen oft von Bezirks- oder Gemeinderäten – und von Bürgern und Organisationen. „Diese lassen sich häufig nicht sofort realisieren und werden deshalb in einer Vormerkliste gesammelt“, sagt Schliwowski. Wird eine neue Straße gebaut, prüfe man diese.
Richtlinien des Gemeinderats legen fest, „dass jede Bezeichnung in Stuttgart nur einmal vergeben werden darf und Flächen nur nach bereits verstorbenen Personen benannt werden dürfen“. Bei neuen Baugebieten mit mehreren Straßen und Plätzen wählt man Namen, die einen thematischen Zusammenhang haben – wie im Europaviertel. „Der Bezirksbeirat des jeweiligen Stadtbezirks berät zuerst über Straßennamen“, erklärt Schliwowski. Der Verwaltungsausschuss des Gemeinderates beschließt sie.
Fertig ist das Europaviertel nicht. „Das muss erst noch zur Stadt werden. Das ist noch ein Baby“, sagt Herbert Medek vom Stuttgarter Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung. Zwischen der Heilbronner und der Moskauer Straße ist ein großes Loch, das mit einem Hochhaus gefüllt wird. Wo jetzt die Gleise zum Hauptbahnhof verlaufen, fehlen noch der Barcelona Platz und die Amsterdamer Straße.
Früher war auf dem Gelände ein Güterbahnhof. Nachdem dieser verlegt wurde und das Projekt Stuttgart 21 begann, wollte man das Gebiet neu bebauen, sagt Medek. „Die Grundlage, überhaupt Stuttgart 21 zu planen, war, die Ost-West-Verbindungen von Europa zu verbessern.“ Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 sei die Vernetzung eine Nord-Süd-Achse gewesen. Um Reisende besser abwickeln zu können, hatte man die Idee, „den Bahnknoten Stuttgart als Durchgangsbahnhof zu gestalten“.
Ziel für das Europaviertel war, alle Straßen als Sichtachsen zu bauen. „Wenn Sie hier durch die Londoner Straße schauen, dann sehen Sie die Grabkapelle auf dem Württemberg“, erklärt Medek. Eine weitere Bedingung ist, dass die Häuser unter 22 Meter hoch sein sollen – außer die Bibliothek: Sie misst 40 Meter.
„Fast 900 Wohnungen werden es sein, wenn alles fertig ist“, sagt Medek. So will man das Gebiet beleben. Zusätzlich wurde im städtebaulichen Vertrag mit den Bauherren festgelegt, dass sich die Erdgeschosse in Geschäfte umwandeln lassen. Aber er gibt zu, „dass das Milaneo von der Potenz an Läden, Bistros und Cafés so mächtig ist, dass da wahrscheinlich in der Umgebung nicht viel blüht.“
Wenig Sympathie für Gestaltung
Die Idee, Straßen nach europäischen Großstädten zu benennen, findet Passant Nedeljko Bubalo gut. „Das ist schließlich unsere Welt hier“, sagt der ursprüngliche Jugoslawe. Er fühlt sich auf dem Kontinent daheim. Über die große Fläche des Pariser Platzes läuft Bubalo hingegen kaum. „Das ist ein toter Platz. Wenn Feierabend ist, passiert da gar nichts.“
Was Bubalo selbst beobachtet, stellt man auch bei anderen fest: Die wenigsten, die die Osloer und Moskauer Straße entlang gehen, spazieren über den Pariser Platz. Eher wird zwischen dem Hauptbahnhof und dem Mailänder Platz hin und her gehetzt. Zuneigung empfinden sie für diesen Ort nicht wirklich.
„Das ist doch nicht schön“ und „Das ist doch kühl“ sind Aussagen, die Medek ungern hört. „Es gibt keinen göttlichen Plan. Eine Stadt ist niemals fertig“, findet der Leiter der städtischen Abteilung Verwaltung, Recht und Untere Denkmalschutzbehörde. Jede Generation habe ihre Ideen. „Man muss immer feststellen, dass man mit seinen eigenen Gedanken, wie eine Stadt sein sollte, immer nur eine Zeitschicht belegen kann.“ Und das sei auch in Ordnung so.
Das Europaviertel gehört zum Bezirk Stuttgart-Mitte. Früher war auf dem Gelände eine große Reitereikaserne. Diese ist auf Stadtplänen von 1818 bis 1915 noch eingezeichnet. Sie wurde jedoch abgerissen, „weil sie der Entwicklung zum Güterplatz im Weg“ war, sagt Herbert Medek. An der heutigen Heilbronner Straße wurde der Güterbahnhof ausgebaut. Anfang der neunziger Jahre wurde dieser aber aus dem Stuttgarter Talkessel nach Kornwestheim verlegt.