Landwirtschaft

Die Zukunft ist solidarisch

Bei regelmäßigen Hofeinsätzen am Stuttgarter Reyerhof können Solawi-Mitglieder freiwillig mithelfen, zum Beispiel beim Unkraut jäten.
03. Dez. 2021
Adieu Avocado, hallo Spitzkohl! Circa tausend Stuttgarter*innen beziehen wöchentlich Gemüse vom Möhringer Bauernhof und finanzieren eine umwelt- und klimaschonende Landwirtschaft. Ein Feature über die Zukunft der Ernährung.

Kisten mit Kartoffeln, Zwiebeln, Feldsalat, Äpfeln und Brokkoli stehen auf Rollwagen in der Lagerhalle des Reyerhofs – bereit, um am nächsten Tag an die 26 Verteilpunkte der solidarischen Landwirtschaft Stuttgart geliefert zu werden. Immer donnerstags holen Mitglieder dort Gemüse, Brot, Mehl oder Getreide, manchmal auch Obst und Eier ab. Und das, ohne sich an die Kasse stellen zu müssen.

Bezahlt wurde schon im Voraus: Statt einzelne Lebensmittel zu kaufen, finanzieren Verbraucher*innen in der solidarischen Landwirtschaft (Solawi) die gesamten Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs für ein Jahr mit einem festen Monats- oder Jahresbeitrag. Im Gegenzug erhalten sie einen Anteil des Ernteguts. In Deutschland erfreut sich das Modell immer größerer Beliebtheit: Während es 2011 nur 19 Betriebe gab, die so arbeiteten, sind es 2020 über 16-mal so viele.

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Die Anzahl der Solawi-Betriebe in Deutschland nimmt stark zu. | Quelle: Natalie Born

Doppelte Solidarität

Die Solidarität zeigt sich in zweierlei Hinsicht. Einerseits finanzieren die Verbraucher*innen ein gesichertes Einkommen für die Landwirt*innen, unabhängig davon, ob die Ernte gut oder schlecht läuft – der Gedanke dahinter: Die Landwirtin oder der Landwirt hat ihre oder seine Arbeit getan und kann Wetter und Klima nicht beeinflussen. Das Anbaurisiko wird also gemeinsam getragen, während auf dem freien Markt „der Landwirt die A-Karte gezogen hat“, sagt Lukas Dreyer, Betriebsleiter am Reyerhof.


Auch innerhalb der Verbrauchergemeinschaft zeigt man sich solidarisch. Die Teilnahme bei der Solawi soll unabhängig von der Höhe des Gehalts jedem und jeder möglich sein. Bevor ein neues Jahr beginnt, geben die Landwirt*innen einen Überblick über alle betriebswirtschaftlichen Kosten und begründen das benötigte Budget. Daraus ergibt sich ein monatlicher Richtwert, den jedes Mitglied durchschnittlich bezahlen muss, um die Kosten zu decken. In einer anonymen Bieterrunde kann jede*r entsprechend seiner Kapazitäten bieten, was er oder sie bereit ist, zu bezahlen.

„Die Landwirtschaft ist einer der größten Verursacher von ökologischen Schäden auf diesem Planeten.“

Niko Paech, Nachhaltigkeitsforscher und wachstumskritischer Wirtschaftswissenschaftler

Nach Angaben des Bundesumweltamts nimmt die Anzahl der Bauernhöfe und der dort angestellten Arbeitskräfte in der Bundesrepublik seit 1949 immer weiter ab, während sich die genutzte landwirtschaftliche Fläche vergrößert. Grund dafür ist der technische und züchterische Fortschritt sowie die Agrarpolitik, die eine möglichst ertragreiche und kostengünstige Landwirtschaft belohnt. Mit verheerenden Folgen: „Die Landwirtschaft ist einer der größten Verursacher von ökologischen Schäden auf diesem Planeten“, sagt Nachhaltigkeitsforscher Niko Paech. „Die ökologischen Defizite sind dadurch entstanden, dass arbeitende Menschen ersetzt wurden – durch Chemie, Maschinen und Globalisierung.“ Solawi-Betriebe bieten mit ihrer kleinbäuerlichen Struktur und ökologisch kontrollierten Wirtschaftsweise ein Gegenmodell für die Zukunft.

  „Bei der Solawi ist es erlebbar, dass man als Gruppe bestimmte Ideale, Ziele und Werte umsetzen kann.“

Lukas Dreyer, Landwirt und gemeinsam mit Anna Laura Hübner Betriebsleiter am Stuttgarter Reyerhof

Das Ausklammern des Markts bedeutet für Landwirt*innen die Befreiung von Marktzwängen. Die Bedingungen, zu denen Landwirtschaft stattfinden soll, werden im Dialog mit den Verbraucher*innen ausgehandelt. „Bei der Solawi ist es erlebbar, dass man als Gruppe bestimmte Ideale, Ziele und Werte umsetzen kann“, macht Dreyer deutlich.

So verzichtet man am Reyerhof auf den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Handelsdünger. Der Mist der zwölf Kühe dient als Dünger und sorgt für fruchtbare Böden. Die abwechslungsreiche Fruchtfolge befördert die Bildung von Humus im Boden, der als CO2-Senke dient. Regionales und saisonales Wirtschaften sorgt für minimale Transportwege und Kühlungszeiten. Überproduktion und Lebensmittelverschwendung werden vermieden.

Wenn ein Wunsch aufkommt, könne Dreyer berechnen, welche Kosten damit verbunden wären und dann fürs nächste Jahr sagen: „Wir schauen mal, ob wir das als Gruppe finanzieren können.“ So hat sich die Gemeinschaft zum Beispiel dazu entschieden, die Stundenlöhne der Mitarbeiter*innen anzuheben und nur samenfeste Sorten anzubauen, das sind „alles Dinge, die kosten Geld“, sagt Dreyer.

Samenfest ist eine Pflanzensorte dann, wenn aus ihrem Saatgut Pflanzen wachsen, die dieselben Eigenschaften und Gestalt haben, wie deren Elternpflanzen. Solches Saatgut muss im Kontrast zum Saatgut der oft eingesetzten und besonders ertragreichen Hybridsorten nicht jedes Jahr neu gekauft, sondern kann natürlich vermehrt werden.

Durch die Transparenz bekommen die Mitglieder wieder einen Bezug zur Landwirtschaft und sind bereit, den Preis für ökologische, soziale und tiergerechte Bedingungen zu zahlen. Diese entsteht am Reyerhof zum Beispiel durch die Offenlegung der betriebswirtschaftlichen Kosten, Info- und Themenabende und die wöchentliche „Kistenpost“, einer Mail, bei der die Mitglieder über Hof-Neuigkeiten informiert werden. Für Dreyer ist die „Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft und die damit verbundene Bildungsarbeit“ daher wichtiger Bestandteil seiner Arbeit.

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Die Umfrage der Online-Vollversammlung im November 2021 zeigt die wichtigsten Gründe der Mitglieder für die Beteiligung bei der Solawi Stuttgart. | Quelle: Natalie Born

Die Zukunft der Landwirtschaft?

Neben der ökologischen Wirtschaftsweise bietet Solawi eine weitere Chance für Umwelt- und Klimaschutz: Durch sie wird der landwirtschaftliche Sektor wachstumsunabhängig und bereit für eine Postwachstumsökonomie, sagt Paech. Das Schrumpfen der Wirtschaft sei notwendig, um die Lebensfähigkeit menschlicher Zivilisationen zurückzugewinnen.

Als „Postwachstumsökonomie“ wird eine Wirtschaft bezeichnet, die ohne Wachstum des Bruttoinlandsprodukts über stabile, wenngleich mit einem vergleichsweise reduzierten Konsumniveau einhergehende Versorgungsstrukturen verfügt. Die Postwachstumsökonomie grenzt sich von landläufigen, auf Konformität zielende Nachhaltigkeitsvisionen wie „qualitatives“, „nachhaltiges“, „grünes“, „dematerialisiertes“ oder „decarbonisiertes“ Wachstum ab. Den vielen Versuchen, weiteres Wachstum der in Geld gemessenen Wertschöpfung dadurch zu rechtfertigen, dass deren ökologische „Entkopplung“ kraft technischer Innovationen möglich sei, wird somit eine Absage erteilt.

Quelle: http://www.postwachstumsoekonomie.de/material/grundzuege/

Paech, der sich im Forschungsreihen-Projekt nascent mit den Entwicklungschancen von Solawi beschäftigt, hält eine weitläufige Ausbreitung unter zwei Bedingungen für möglich: Erstens müssten Politik und Medien die Vorteile einer Direktvermarktung durch Solawi sichtbarer machen. Zweitens müssten „die großen agrar-industriellen Betriebe“ ihre Flächen zumindest probeweise für die solidarische Landwirtschaft bereitstellen.

Auch Dreyer ist überzeugt, dass Solawi das Potenzial hat, die Landwirtschaft nachhaltig zu reformieren. Aber es gebe auch Herausforderungen auf Seiten der Landwirt*innen: die Transparenz, die Aufbereitung und Offenlegung von betriebswirtschaftlichen Zahlen, die Kommunikation und der Kontakt zu den Kund*innen. „Das ist für viele ganz viel Unbekanntes und eine Riesenhürde.“ Das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft bietet auf seiner Webseite bereits einige Hilfestellungen an. Trotzdem sei es ein Feld, wo weiter überlegt werden müsse, wie man „Leute ins Boot holen kann“, so Dreyer.

Gesellschaftlicher Wandel

Verbraucher*innen sind herausgefordert, saisonal und regional zu kochen. Für Lena Steinbuch, die seit Tag eins dabei ist, kann von Verzicht keine Rede sein. Sie bekomme jede Woche eine Vielzahl von „wirklich leckerem Gemüse“, welches über das Jahr hinweg variiere. „Immer wenn ich denke: Jetzt reichts mir mit Spitzkohl, dann ist aber auch die nächste Jahreszeit“, erzählt sie. Renate Koppen, ebenfalls Solawi-Mitglied, wundert sich: „Ein Bekannter von mir will Zucchini im Dezember essen“, worauf Lena lächeln muss und entgegnet „Ich kann doch jetzt keine Zucchini mehr sehen, da hab ich mich doch im September dran satt gegessen“. Am Rand des Ackers entdecken die beiden einen Blumenkohl, der bei der Ernte vergessen wurde – „den nehmen wir auch mit“, sagt Renate „hier wird nichts verschwendet.“

Lena und Renate, Mitglieder der Solawi Stuttgart, haben einen vergessenen Blumenkohl auf dem Acker gefunden.
Unter den vier Foliendächern des Reyerhofs wachsen auch im Winter Ackersalat, Asiasalat, Postelein, Radieschen und co.
Der Mangold des Reyerhofs wird im November geerntet.
Einmal im Monat bekommt jedes Solawi-Mitglied vier Eier vom Reyerhof.