Flucht und Asyl

Endstation Griechenland

Für viele Geflüchtete wartet in Griechenland das nackte Elend. Ohne Aussicht, weiter zu kommen.
08. Okt. 2021
Illegale Pushbacks, Gewalt durch Polizist*innen und keine Hilfen des Staates. Einst sicherer Hafen, wartet für Geflüchtete heute nur noch Armut und Perspektivlosigkeit in Griechenland.

Ein heißer Sommertag in Thessaloniki. Zu heiß. 46 Grad, kein frischer Luftzug, nur der Geruch nach Abgasen, Smog und Schweiß bleibt. Etwa 360.000 Menschen leben im Stadtkern der zweitgrößten Stadt Griechenlands, doch die Straßen sind wie leergefegt. Sogar die sonst unzähligen streunenden Katzen verstecken sich irgendwo an kühleren Plätzen. Am Horizont ist Rauch zu sehen; es ist die Hochsaison der Buschbrände.

Serkan Eren, der Gründer der Stuttgarter Hilfsorganisation Stelp stellt den Kontakt zu einem Aktivisten in Thessaloniki her: Jannis Papadopoulos. „Einer der besten Menschen, die es gibt. Er setzt sich für alle möglichen Minderheiten ein. Kämpft gegen jede Ungerechtigkeit. Er ist großartig“. Die beiden Männer haben sich bei Erens erster Hilfsaktion, damals noch ohne Organisation im Rücken, in Idomeni kennengelernt. Ende 2014 tauchten in der griechischen Grenzstadt zu Nordmazedonien die ersten Geflüchteten auf. Verängstigt und traumatisiert von der Flucht versteckten sie sich in leerstehenden Häusern und in den Bergen. Damals entstanden zahlreiche Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), die die Geflüchteten mit Wasser, Essen und Kleidung versorgten. Es war der Beginn der Balkanroute und der Frage nach Solidarität.
„Wir schaffen das“, war 2015 Angela Merkels Statement zu den immer mehr werdenden Flüchtlingen. Heute ist davon, wie wir später sehen, nicht mehr viel übrig.

Das erste Treffen mit Jannis Papadopoulos ist anders als erwartet. „Bin ich mit dir verabredet?“, fragt er, nachdem er gut 15 Minuten zu spät den Treffpunkt erreicht.
Die Griechen haben es nicht eilig, für Deutsche ein Albtraum.

Auch das Bild eines Gerechtigkeitskämpfers erfüllt er nicht. Kleine, gedrungene Statur und die Tage in denen er körperlich fit war, liegen sichtlich eine Weile zurück. „Früher war ich wie Speedy Gonzales“, mit gespitztem Mund macht der 63-jährige Grieche "Zisch"-Geräusche. Aber jetzt sei er oft müde und er könne die Hitze nicht mehr ertragen.
Doch nicht nur das Alter mache ihm zu schaffen, die wirtschaftliche Situation Griechenlands und die konservative und „faschistoide“ Linie der Regierung gehe ihm an die Nieren. „Es leben so viele Menschen auf der Straße und werden einfach alleingelassen“. Und nicht, weil die Regierung das nicht sehe. Sie akzeptiere es, eher noch: Sie entscheide sich ganz bewusst dazu, wegzuschauen.

"Die Geflüchteten verstecken sich aus Angst vor der Polizei"

Papadopoulos hat schon unzählige Ungerechtigkeiten gesehen. Er erzählt von illegalen Pushbacks und Polizist*innen die Flüchtlinge verprügeln. Sobald er davon anfängt, wird seine Stimme lauter. Er hat so viel Wut in sich. Und trotz all dem Frust: Er setzt sich seit Jahren immer noch für die Rechte der Minderheiten ein. Denn noch größer als seine Wut ist die Liebe und sein Glaube an Gerechtigkeit.

Auch Elina, eine Mitarbeiterin von Alkyone, einem Tageszentrum für Geflüchtete, bemerkt die Angst vor der Polizei. Aufgrund der Corona-Pandemie dürfen die Geflüchteten momentan nur einmal die Woche zu Alkyone kommen, um Essen abzuholen. „Seit die rechte Partei an der Macht ist, ist es schlimmer geworden. Deshalb kommen auch nicht mehr viele Männer hier her (zur Essensausgabe), aus Angst“**. Oft käme nur einer, weil die anderen sich verstecken. „Wir haben eine Menge Geschichten gehört, dass Geflüchtete auf der Straße aufgegriffen werden und zurück in die Türkei gebracht werden. Das ist natürlich nicht legal, aber es passiert. Das wissen wir“.

„Diese Rhetorik denen (Geflüchteten) gegenüber, ist in Griechenland schon sehr nationalistisch, antimuslimisch, aggressiv. Und das ist auch so gewollt“

Florian Schmitz (Deutsche Welle)

Florian Schmitz, Auslandskorrespondent der Deutschen Welle, der ebenfalls in Thessaloniki lebt, bestätigt diese Aussagen: „Ich habe es noch nicht selbst gesehen, aber die Erzählungen der Geflüchteten decken sich alle“. Diese Gewalttaten würden auch dadurch verstärkt, da die Asylpolitik immer komplizierter werde und es immer schwerer sei, als Geflüchtete*r in Sicherheit zu gelangen. Die Kriminalisierung der Fluchtrouten führe zu illegalen Abschiebungen und Gewalttaten durch die Behörden. „Wir wissen, dass Flüchtende überall abgeschoben werden, an allen Grenzen hier im Balkan“. Und das seien nicht nur die nationalen Behörden, auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex sei beteiligt. „Das ist wirklich absurd. Da leisten europäische Beamte in griechischen Uniformen Fluchthilfe, illegal nach Albanien. Und dann stehen auf der anderen Seite nicht europäische Behörden zusammen mit Frontex und die schieben die Flüchtlinge illegal dann wieder zurück in die Europäische Union“. Der gesamte Fluchtprozess sei so illegalisiert und in Griechenland werde versucht, den Menschen das Leben so wenig schmackhaft wie möglich zu machen. Da sei es auch nicht verwunderlich, dass Geflüchtete versuchen aus Griechenland wegzukommen. „Diese Rhetorik denen (Geflüchteten) gegenüber, ist in Griechenland schon sehr nationalistisch, antimuslimisch, aggressiv. Und das ist auch so gewollt“.

Auf unsere Anfrage an die griechische Polizei, mit der Möglichkeit einer Stellungnahme zu den genannten Vorwürfen, gab es keine Reaktion.

Ein Leben im Elend

Durch die Corona-Pandemie stürzte das Land wieder in eine Rezession, in einem Ausmaß, wie es zuletzt im Krisenjahr 2011 der Fall war. Im vergangenen Jahr berichtete das Handelsblatt, dass nach Schätzung des griechischen Gaststättenverbandes rund ein Drittel der Restaurants, Cafés und Bars die Krise nicht überstehen würden. Auch an den Menschen gingen die letzten Jahre nicht spurlos vorbei. Neben den tausenden Flüchtlingen, haben auch Einheimische ihr Hab und Gut verloren und leben mittlerweile auf der Straße. Von der Regierung gibt es kaum Hilfe.
Sobald Flüchtlinge einen Schutzstatus in Griechenland erhalten, fällt die finanzielle Unterstützung weg und die Menschen können nicht einmal mehr ihre Grundbedürfnisse decken.

"We cover needs, that otherwise just wouldn't be cared about"

Lydia Siapardini

Lydia Siapardini kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit des Irida Center, einer gemeinnützigen Organisation, die Frauen und Mädchen aus aller Welt Unterstützung und Ressourcen bereitstellt, um sie „zu schützen, zu befähigen und zu unterstützen“, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Die junge Griechin sitzt hinter ihrem Schreibtisch, vor sich einen Fredo Cappuccino. Das go-to Getränk im Sommer. Im Gegensatz zu den meisten Aktivist*innen in Griechenland wirkt sie noch jung und fidel. Mit ihrem schwarzen Top, mehreren Ringen und Ketten und einem perfekt sitzenden Make-up könnte sie gerade genauso gut in einem hippen Strandcafé sitzen.
„Das Schlimmste ist es, nicht in der Lage zu sein, jemandem so zu helfen, wie er oder sie es verdient. Und das liegt nicht daran, weil wir zu wenig Leute wären, sondern weil wir durch Regulierungen und Gesetze nicht mehr machen können“**. In ihren Augen ist eine leichte Resignation zu sehen. Mit einem verzweifelten Lachen fügt sie an, dass es keinen Sinn hat, darüber nachzudenken: „Es macht einfach nur wütend und fassungslos. Wir kümmern uns um Grundbedürfnisse, die ansonsten einfach nicht gedeckt werden“.

Auf sich selbst gestellt

Auf dem Weg zu Albatros, einer weiteren Hilfsorganisation, liegt eine historisch romanische Stätte mit angrenzenden Park. Der antike Angora Platz. Im Schatten der Bäume ruhen sich Streunerkatzen neben Kleingruppen von Geflüchteten aus. Zwischen Plastikflaschen und Dreck verrichten sie hier ihr Salat, das Pflichtgebet für muslimisch Gläubige. Die sengende Hitze nehmen sie dafür in Kauf.

Im Vorraum von Albatros herrscht reges Treiben, ältere griechische Frauen wuseln umher und packen Kisten mit Kleidung und kleinen Tüten, in denen sich Nussmischungen, eine Wasserflasche und ein abgepacktes Schokocroissant befindet. Obwohl der Raum eher an eine Rumpelkammer erinnert, scheinen alle Anwesenden zu wissen, was wo hingehört. In griechischer Sprache wird etwas gesagt; vermutlich irgendetwas wie „Was machen Sie hier?“. Eine Journalistin also. Gestikulierend wird einem bedeutet, ins Innere zu folgen. „Miss Maria“, wie die Leiterin liebevoll genannt wird, zeigt mit dem Finger auf eine junge Frau und sagt etwas auf Griechisch. Es wurde extra eine Freiwillige herbestellt, um zu dolmetschen. Doch zu früh gefreut. Das Englisch der Literatur-Studentin Ereni ist brüchig und sie versteht nur die einfachsten Fragen. Es ist eher ein Gespräch gegeneinander als miteinander.

„Niemand sonst unterstützt diese Menschen“

Shivan*

Ein junger Mann, sportlich, vermutlich Ende Zwanzig kommt an den Tisch und bietet Kaffee an. Eine willkommene Unterbrechung des stockenden Gesprächs. „Fredo Cappuccino bitte“; man muss sich ja schließlich anpassen. Die Augenringe unter seinen Augen lassen auf wenig Schlaf und Stress vermuten. Sein Blick schweift schnell wieder ab.
Der geflüchtete Iraker spricht besser Englisch. Endlich. Seit etwa drei Jahren lebt Shivan* in Thessaloniki bei Miss Maria. Jedes Mal, wenn er ihren Namen nennt, entspannt er sich etwas, seine Gesichtszüge werden weicher. In der Stimme schwingt Anerkennung mit. Beinahe als würde er über seine Mutter reden. „Es (Albatros) ist wie mein Zuhause […] sie sind meine Familie“**. Seine Stimme ist brüchig, man sieht ihm seine Zerrissenheit an. Im Umgang mit Miss Maria und Ereni wirkt er unbeschwert, sie witzeln herum. Ein Bild einer kleinen glücklichen Familie. Doch er kann nicht für immer hierbleiben, das wissen alle.

Wie für hunderte andere Geflüchtete sind NGOs auch für Shivan die einzige Möglichkeit, nicht auf der Straße leben zu müssen: „Niemand sonst unterstützt diese Menschen“. Er muss es wissen, denn bevor er bei Albatros unterkam, arbeitete er wohl schon bei einer Hilfsorganisation der UN, die von der griechischen Regierung finanziell unterstützt worden sei. „Aber die helfen nicht. Die Organisation, deren Namen ich nicht nennen will, hatte viel mehr Sachen als wir hier. Dauernd erhielten sie Spenden, aber gaben die nicht an die Leute. Sie haben es einfach behalten“. Die Frustration steht ihm auf die Stirn geschrieben. Genauso wie all den anderen Menschen, die sich in der griechischen Stadt für Geflüchtete einsetzen. Hilfe muss hier von privater Seite kommen.
„Aber die griechischen Leute hier, die wollen helfen. Sie müssen so viel arbeiten und wissen, wie es ist eine schwierige Zeit zu haben. […] Immer wenn etwas passiert, wie die Feuer (In der ersten Augustwoche mussten aufgrund von Waldbränden mehrere Vororte Athens evakuiert werden; darunter auch ein Flüchtlingslager Anm. d. Red.), unterstützen sich die Griechen gegenseitig. Die Unterstützung kommt von Herzen, das ist cool“.

Doch keine Bevölkerung der Welt kann sich allein um Geflüchtete kümmern. Vor allem eine Nation wie Griechenland nicht.

Es wird Nacht und endlich kühlt die Stadt ein bisschen ab. Wobei das angesichts der immer noch herrschenden 36 Grad wohl übertrieben ist. Trotzdem: Die Straßen füllen sich, griechische Musik erklingt aus den traditionellen Tavernen, man hört Gelächter aus den zahlreichen Bars in den kleinen Straßen der Stadt, ein Hauch von Wind ist zu spüren. Die Stadt erwacht zum Leben. Im Park des Angora Platzes treffen sich vereinzelte Geflüchtete zum Abendgebet.

* Name wurden zum Schutz der Person geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.

** Zitat wurde von der Autorin des Textes aus dem Englischen übersetzt.

Die Autorin ist ehrenamtlich bei der Hilfsorganisation Stelp aktiv, die sich unter Anderem um Geflüchtete kümmert. Die Verbindung zu Stelp-Gründer Serkan Eren wurde in dieser Reportage ausschließlich zur Kontaktierung griechischer Aktivist*innen genutzt.