Bis wir in der Azubi-Lücke versinken
Kim Winkel liebt ihren Beruf. 2018 schließt sie die Ausbildung zu Erzieherin ab und übernimmt kurz darauf die Leitung eines Kindergartens. Ihr Traumberuf verwandelt sich bald zur Schlafblockade. „Ich hatte das Gefühl, nie allem gerecht zu werden, weil wir einfach keine Leute nachbekommen haben. Vor dem Schlafen hatte ich ein komisches Gefühl, weil ich dachte, wenn sich morgen jemand krankmeldet, dann muss ich eine Gruppe schließen.“
Definition Fachkräftemangel:
Laut der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) wird von einem Fachkräftemangel gesprochen, wenn die Nachfrage nach fachlich ausgebildetem Personal über einen längeren Zeitraum hinweg nicht mehr gedeckt werden kann. Somit schließt der Begriff die Qualifikationen der Bewerber*innen mit ein. So kann es sein, dass es zwar genügend Bewerber*innen für die Berufe gibt, diese allerdings die fachlichen Anforderungen für den Beruf nicht oder nur teilweise erfüllen.
Azubis gesucht!
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (StBA) nimmt der demografische Wandel in Deutschland zu. Eine geringere Geburtenrate führt zu weniger Schulabgänger*innen, was die Anzahl der Azubis verringert. Sind die geburtenstarken Jahrgänge der 1955 bis 1969 Geborenen in Rente, wird sich der fehlende Nachwuchs als Fachkräftemangel bemerkbar machen.
Die geografische Lage je nach Bundesland hat einen erheblichen Einfluss auf die Azubianzahl. Viele Azubis wollen oder können sich kein Auto leisten oder besitzen noch keinen Führerschein. Die Anbindung zur Berufsschule ist ein wichtiges Kriterium bei der Berufswahl. Demnach sind Gebiete mit einer schwachen Infrastruktur häufiger von einem Azubimangel betroffen als die städtischen Ballungsräume. Es bildet sich ein Teufelskreis. Durch den Mangel an Azubis auf dem Land werden ländliche Berufsschulen zusammengelegt und in Städte verlagert, was den ländlichen Azubimangel wiederum bestärkt.
Gleichzeitig steigt der Trend zur Akademisierung. Immer mehr Absolvent*innen entscheiden sich für ein Studium. Davon versprechen sie sich bessere Berufsaussichten, ein höheres Einkommen und einen Statuszuwachs. Das ergab eine Studie der Prognos AG im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Außerdem fühlen sich viele Schulabgänger*innen nach ihrem Abschluss orientierungslos. Laut einer Umfrage von Ausbildung.de sind 45 Prozent der Jungen und 63 Prozent der Mädchen mit der Wahl eines Berufes überfordert. Sie nutzen die vielfältigen Studienfächer an Hochschulen, um sich in den ersten Semestern zu orientieren.
Corona reißt die Lücken auf
Die Akademisierung hat sich aufgrund der Corona-Pandemie verstärkt. Viele Absolvent*innen waren von der Corona-Situation verunsichert und haben ihr Abschlussjahr wiederholt oder eine weiterführende Schule für mehr Orientierungszeit gewählt. Die Abschlüsse der Ausbildungsverträge im Jahr 2020 bestätigen diesen Trend: Sie sanken auf 467.500. 12 Prozent weniger als im Vorjahr. Diese Erhebung des Statistischen Bundesamtes (StBA) ergab, dass die Zahl damit einen historischen Tiefstand erreichte. Seit der statistischen Erfassung ab 1977 gab es noch nie so wenige abgeschlossene Ausbildungsverträge.
Mehr Integration als Lückenfüller?
Gerd Kistenfeger von der Handwerkskammer Stuttgart (HWK) gibt Hoffnung: „Das Minus von 2020 haben wir dieses Jahr ein Stück weit aufgeholt. Die Betriebe sind jetzt trotz Pandemie und immer wiederkehrende Lockdowns bereit, jungen Menschen eine Zukunftsperspektive zu bieten, sprich, wieder auszubilden.“
Auch die Politik kümmert sich um das Defizit. Am 1. Januar 2020 wurde der Mindestlohn für Auszubildende eingeführt. Azubis bekommen seitdem erstmals eine gesetzliche Mindestvergütung. 2020 betrug dieser 515 Euro im ersten Lehrjahr. Diese Vergütung wird jährlich angehoben, so betrug sie 2021 bereits 550 Euro. Laut Kim Winkel müssen auch die Gehälter für die ausgelernten Fachkräfte angepasst werden.
Die Integration von ausländischem Fachpersonal soll ebenfalls dem Mangel entgegenwirken. Viele Fachkräfte aus dem Ausland leisten bereits einen Beitrag zur deutschen Wirtschaft. Um weitere Arbeiter*innen zu gewinnen, wurde am 1. März 2020 das Fachkräftezuwanderungsgesetz eingeführt, das erstmals die Einwanderung qualifizierter Fachkräfte aus nicht EU-Staaten regelt. Die Jobsuche für potenzielles Fachpersonal wird dadurch erleichtert.
Auch die Erzieherin Kim Winkel, der Koch Lukas Witt, die Bäckerin Jessica Sander und der Anlagenmechaniker Noel Konopik haben Ideen, um mehr Menschen für eine Ausbildung zu begeistern.
Neben den Maßnahmen betont Gerd Kistenfeger von der Handwerkskammer Stuttgart (HWK), dass bereits in der Schule ein größerer Fokus auf die Orientierung gerichtet werden muss. Lehrer und Eltern sollen den Schüler*innen nicht nur den Weg ins Studium schmackhaft machen, sondern auch das Potenzial im handwerklichen Bereich aufzeigen.