"Es war schwierig als man da draußen war. Man hatte irgendwie gar kein Plan, wie man weiter macht."
Auf der Flucht vor einer Entscheidung
Wenn du heute an den ersten Tag deiner Flucht zurückdenkst, welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Ich habe keine genauen Erinnerungen mehr an den Tag in Sarajevo. An was ich mich aber erinnere, das ist der Abschied der Männer von ihren Frauen und Kindern. Das war ziemlich heftig mitanzusehen und hat uns schon sehr mitgenommen. Wir standen alle auf einem großen Parkplatz, auf dem einige Privatautos und Stadtbusse standen, mit denen wir dann losgefahren sind. Ich saß ganz vorne im ersten Bus. Ich kann mich noch erinnern, wie die Kinder die ganze Zeit geweint haben, weil alle so sehr Angst hatten. Aber auch an die Erleichterung kann ich mich erinnern. Die Stimmung hat sich geändert, als wir endlich an der Grenze zu Kroatien angekommen waren und wussten, dass wir in Sicherheit sind.
Der Bosnienkrieg war ein bewaffneter Konflikt, der von 1992 bis 1995 in Bosnien und Herzegowina stattfand. Er entstand nach dem Zerfall Jugoslawiens und wurde zwischen den dort lebenden muslimischen Bosniaken, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben ausgetragen. Vor dem Krieg lebten die drei Bevölkerungsgruppen friedlich miteinander in dem Land. Angetrieben war der Krieg von ethnischen und religiösen Spannungen, nationalistischen Bestrebungen und territorialen Ansprüchen. Sarajevo, die Hauptstadt Bosniens, war über die Gesamtdauer hinweg stark von den Folgen des Kriegs betroffen.
Der Protagonist wechselt häufig individuell zwischen seinem professionellen Deutsch und seinem Alltagsdeutsch. Sein Wortlaut wurde in diesem Interview wahrheitsgetreu übernommen.
Der Protagonist steht in freundschaftlicher Beziehung zu der Redakteurin.
Wie kam es für dich überhaupt zu der Entscheidung, dein Land zu verlassen?
Der Bürgerkrieg in Sarajevo hätte für mich bedeutet, dass ich gegen einen Teil meiner Familie hätte kämpfen müssen, weil ich aus einer Mischehe komme. Meine Mama ist muslimisch, mein Vater war katholisch. Man musste sich für eine Seite entscheiden, was ich nicht tun wollte. Am Anfang wusste niemand, wer die Guten und wer die Bösen sind, das hat sich erst später gezeigt. Also konnte man sich am Anfang schwer überhaupt für eine Seite entscheiden. Meine Entscheidung war es, keine Entscheidung zu treffen. Für mich war Krieg nicht die richtige Lösung der Probleme, in welchen sich mein Land befunden hat. Zu der Zeit war ich Student, aber ich wusste, ich würde das Studium dort nicht abschließen können, also bin ich gegangen und nicht mehr zurückgekehrt.
Was hat der Krieg innerhalb deiner gemischten Familie ausgelöst?
Sarajevo wurde schon anfangs von den Serben immer wieder bombadiert. Mein Vater hat sich damals entschieden, mit den muslimischen Bosniern zu kämpfen. Mein Onkel stand auf der Seite der katholischen Kroaten. Für meine Familie war der Krieg nicht einfach, aber mein Vater und Onkel hatten Glück, dass in ihrer Stadt beide den gleichen Feind hatten. Die orthodoxen Serben. Deshalb gab es auch innerhalb meiner Familie keine großen politischen Konflikte, es wurde sich eher einfach auf die Serben konzentriert.
Wie hat es sich für dich angefühlt zu wissen, dass du alles zurücklässt, was du kennst und liebst.
Ich habe nicht viel überlegt. Ich hatte Angst vor dem Krieg und man konnte sehen, dass die Situation in Sarajevo immer schlimmer wurde. Ich musste einfach eine schnelle Entscheidung für mich und meine Zukunft treffen.
Wie genau hat die Geschichte von deiner Flucht dann angefangen?
Meine Familie ist in Sarajevo geblieben, während ich, mein bester Freund Damjan und meine beste Freundin Svjetlana am 18. Mai 1992 Sarajevo verlassen haben. Wir haben einen Konvoi von Kindern, Frauen und Jugendlichen begleitet, die ebenfalls geflüchtet sind. Deshalb durften wir die Stadt noch verlassen, für Männer war das von der Regierung eigentlich schon verboten. Wir sind über Kroatien geflohen und davon habe ich heute noch eine verrückte Erinnerung im Kopf. Wir mussten eine gewisse Strecke mit einem Schiff zurücklegen, was voll mit kroatischen Soldaten war, da Kroatien damals ja auch im Krieg gewesen ist. Die kroatischen Soldaten wollten auf dem Schiff Nachrichten hören, haben aber immer nur Sender empfangen, die ihren Kriegsgegnern gehörten. Die Soldaten haben das nicht verstanden und sich die ganze Zeit über die blöden Nachrichten aufgeregt, während wir uns kaputtgelacht haben. Ich denke unsere Emotionen lagen einfach an der Erleichterung, endlich aus Sarajevo draußen zu sein.
Wie ging es dann weiter von Kroatien?
Von Kroatien aus sind wir dann nach Slowenien geflohen. Ab da waren es dann nur noch meine besten Freunde und ich. Wir hatten eigentlich geglaubt, dass wir nach Libyen gehen, weil die Eltern meiner besten Freundin dort gelebt haben. Als wir dann in Slowenien waren, meinte ihr Vater aber, es sei totaler Blödsinn zu ihnen zu kommen, weil sich der Weg nicht lohnen würde und wir lieber nach Deutschland zu Maja gehen sollten. Maja war eine Freundin aus Kindheitszeiten von uns allen, die schon längere Zeit in Deutschland gelebt hat. Also haben wir uns für Deutschland entschieden. Es war schwierig als man da draußen war. Man hatte irgendwie gar kein Plan, wie man weiter macht.
Wie sah der Tag deiner Ankunft in Deutschland genau aus?
Nach Deutschland sind wir mit dem Zug gekommen. Meine Freundin Maja hat uns dann am Bahnhof in Stuttgart abgeholt und wir hatten einen total entspannten Tag. Meine beste Freundin konnte bei Maja unterkommen. Mein bester Freund und ich wussten aber, dass wir in der Firma von Majas Vater arbeiten würden, also sind wir dann in so einer Arbeiterunterkunft der Firma untergekommen. Das war wirklich das Letzte. Wir haben da zu viert in einem Zimmer geschlafen und es hat so gestunken. Ich war total am Arsch, als ich gesehen habe, wo ich eigentlich gelandet bin.
Was hat dich gerade in solchen Situationen davon abgehalten zurückzugehen?
Es hat nie einen Punkt gegeben, wo ich wirklich zurückwollte. Erst war der Krieg und dann hat mein Land nur weiter Entscheidungen getroffen, die mir überhaupt nicht gefallen haben. Bei mir war von Anfang an eine Ablehnung gegenüber dem Zurückgehen da. Die ersten zehn Jahre nach meiner Flucht bin ich gar nicht nach Bosnien gegangen. Erst als mein Vater gestorben ist, bin ich nach langer Zeit wieder nach Hause gegangen. Ich wusste schon relativ früh nach meiner Flucht, dass ich meine Zukunft in Deutschland aufbauen wollte.
Wie einfach ist dir das Leben nach deiner Flucht in Deutschland wirklich gefallen?
Die ersten sechs Monate in Deutschland waren nicht einfach, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben auf der Baustelle gearbeitet habe. Das war für mich ein Schock. Um davon wegzukommen habe ich mich, sobald ich die Möglichkeit hatte und mein Deutsch gut genug war, dann an der Uni Stuttgart immatrikuliert und mein Studium fortgesetzt. Da habe ich später dann auch das Angebot für meinen Promotion bekommen, die ich dann absolviert habe. Nach der Baustelle ging es also eigentlich nur noch bergauf.
Gibt es etwas, das du an deinem Leben in Bosnien wirklich vermisst?
Ich vermisse die Unbeschwertheit meiner Kindheit. Durch den Krieg ist mein Leben über Nacht auf einmal sehr ernst geworden. Ich sehne mich schon nach der Zeit, als ich über nichts nachdenken musste.
Kannst du beschreiben, wie dein Leben heute in Deutschland nach allem aussieht?
Also, meine Mama ist heute noch in Sarajevo. Meine Schwester ist einige Zeit nach meiner Flucht dann irgendwann nach Zagreb gezogen. Ich besuche beide bis heute immer wieder, so oft es halt geht. Ich hatte Glück, dass ich hier relativ schnell anfangen konnte mein Studium fortzusetzen. Heute bin ich Ingenieur für Maschinenbau mit einem Doktortitel und einem guten Job. Ich wohne, wie schon damals, in der Nähe von Stuttgart. Aber heute mit meinen zwei, fast schon erwachsenen, Kindern und meiner Frau. Und ich spiele hier im Verein auch schon länger Tennis. Mein Leben ist so normal, wie deins auch.
Wenn du heute nochmal zurückgehen könntest, würdest du etwas anders machen?
Nein. Ich denke, ich würde nichts anders machen. Es war nicht einfach, aber ich denke ich hatte viel Glück und war einer, der vom Krieg profitiert hat. Meine engste Familie hat zwar keine Verluste erlitten, aber ich habe eine Menge Freunde im Krieg verloren. Ich denke, es war schlau von mir, zu gehen, bevor es zu spät war. Deutschland hat mir eine gute Ausbildung mit Doktortitel, einen sehr guten Job und eine glückliche Familie ermöglicht. Ich habe ein superschönes Leben und fühle mich hier sicher. Ich denke nicht, dass mir in Bosnien die gleichen Dinge gegönnt gewesen wären. Auch ohne Krieg.