„Man hat einfach nicht diese Art von Sterilität wie hier, da krabbelt es auch mal am Boden und es fliegen Fliegen durch den OP“
Ärzte ohne Grenzen – Medizin im Kriegsgebiet
Wie ist es von einem auf den anderen Tag in einem notdürftig eingerichteten Untersuchungszimmer mitten im ländlichen Afrika zu stehen? Das Land ist einem völlig fremd und die Leute und Arbeitsweisen sind unbekannt. Immer wieder sind Schüsse aus der Ferne zu hören, in der das absolute Chaos herrscht. Ein Fremder, schwer verletzter Zivilist sucht mit schmerzverzerrten Augen Halt und wartet ungeduldig auf eine Diagnose, dabei spricht er noch nicht einmal dieselbe Sprache. Nach und nach wird klar, dass heute und in den nächsten Wochen keine klassische Diagnostik, wie aus den heimischen Krankenhäusern bekannt, erfolgen wird. Kein Röntgen, kein Ultraschall und keine moderne Medizintechnik, die bei der Diagnostik unterstützen kann. Es ist ein völlig neuer Ansatz gefordert. Es muss der Wahrheit ins Auge geblickt werden, dass Kreativität im Vorgehen unabdingbar ist, wenn den Menschen hier wirklich schnell geholfen werden soll.
So oder zumindest so ähnlich hat sich auch Dr. med. Wilhelm Schäberle auf seinen Auslandseinsätzen mit der Hilfsorganisation „Medicines sans Frontiers“ (MSF) (deutsch: „Ärzte ohne Grenzen“) von 1995 bis 2003 gefühlt. Der Chirurg aus Göppingen, der über 10 Auslandseinsätze in verschiedenen Kriegs- und Krisengebieten in Afrika und Asien in seiner Vita hat, erzählt bis heute sehr bildhaft davon, wie sich die Situation von Hilfskräften vor Ort einordnen lässt, und vor welche Herausforderungen man kurzfristig gestellt wird.
Die "Médecins Sans Frontières" (MSF) sind die 1971 in Frankreich gegründete und heute größte unabhängige Organisation für medizinische Nothilfe der Welt. Die Organisation umfasst ein Netzwerk aus 26 Mitgliedsverbänden (darunter die deutschen "Ärzte ohne Grenzen") und leistet in mehr als 70 Ländern rund um den Globus Nothilfe. Allein in Deutschland baut die Organisation bereits auf 777.000 private Spender*innen.
Schon immer einmal wollte Schäberle die Faszination in Entwicklungsländern zu arbeiten, ergründen. Woher die genau kam, wisse er gar nicht genau, sagt er nach kurzem Überlegen. Das habe dann aber genau gepasst, erinnert er sich: Nachdem er in verschiedene Richtungen studiert hatte, ist er dann schlussendlich bei der Medizin gelandet und mit der sich zuspitzenden Lage in Konfliktregionen auch bei MSF. Er habe einfach gesehen, dass auf der Welt dringend geholfen werden muss. Für ihn war es dann nur naheliegend sein Know-How in der Chirurgie sinnvoll am Ort des Geschehens einzubringen.
Wieso benötigt es externe Ärzte im Kriegsgebiet ?
Laut dem Chirurgen herrscht in Kriegsgebieten allgemein oftmals das Problem, dass aufgrund der sich zuspitzenden Lage in schwelenden bewaffneten Konflikten die privilegierten und gut situierten Einheimischen diejenigen sind, die zuerst die Möglichkeiten zur Flucht haben und diese auch ergreifen. Oft sind auch Ärzte Teil dieser Gesellschaftsschicht und so kann oft schon früh in Krisen die medizinische Infrastruktur in der Region nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Krankenhäuser werden oft nur noch von Krankenschwestern betreut. Genau hier war Schäberle gefragt und wurde anstelle des geflüchteten Personals eingesetzt, um medizinische Hilfe vor Ort zu gewährleisten.
Dass diese Einsätze nicht ganz ungefährlich sind, dass müsse sich ein jeder bewusst machen, aber: „Die MSF besteht strikt auf Neutralität“ sagt Schäberle. So werden strikt nur Zivilisten und bewusst in keinem Fall jemand behandelt, der seine Uniform trägt. Dadurch sollen Konflikte im Umfeld des Krankenhauses und der Anschein von Sympathien gegenüber einer involvierten Partei vermieden werden. Außerdem werden im Vorfeld durch die MSF Verhandlungen geführt, welche die Akzeptanz und Toleranz aller involvierten Konfliktparteien einfordern, um überhaupt einen möglichst sicheren Einsatz zu ermöglichen. „Es gibt dann eben auch eine gewisse Sicherheit, lieber mit so einer Organisation zu gehen als selbst loszustapfen“ erinnert sich Schäberle, der feststellte, dass eine wehende MSF-Flagge auf dem Krankenhaus mitten im Kriegsgebiet die ungestörte Arbeit durchaus erleichtert.
Herausforderungen der dürftigen Infrastruktur
Auch kann man in solchen Krisengebieten natürlich nicht im entferntesten Sinne westliche Ausstattungsstandards erwarten, wie Schäberle schildert. Neben einem einzigen hochbetagten Ultraschallgerät, das er in all der Zeit zur Verfügung hatte und gelegentlich sehr alten Röntgengeräten, die schon deutlich bessere Tage gesehen hatten, beschränkten sich die Mittel zur Feststellung des Ausmaßes einer Verletzung lediglich auf die eigenen Erfahrungswerte, die Hände und die Sinne. Allein von der Fähigkeit, beispielsweise einen Bruch richtig zu erfühlen und zu ertasten, hängt es dann ab, ob der gebrochene Knochen wieder korrekt eingerichtet werden kann.
Auch beim Thema Hygiene musste der Arzt das ein oder andere Mal tief durchatmen. Die Standards der zum Teil auch nur notdürftig eingerichteten OP-Säle vor Ort entsprachen nicht dem, was man in den heimischen Kliniken unter Sterilität verstehen würde. Anstelle der ihm bekannten, sich von selbst verschließenden Schleusen an den Türen und mehrfacher professioneller Reinigung der Gerätschaften vor ihrem Einsatz, waren bei seinen Operationen an offenen Wunden auch hin und wieder ungebetene Gäste zugegen.
Die Folge daraus? Man musste das Vorgehen anpassen. Heißt zum Beispiel: Keine Metallimplantate aufgrund von Infektionsgefahr. Man möchte ja nicht, dass es noch schlimmer wird, als es sowieso schon war. Nur das Einrichten des Bruches per Hand und anschließendes Vergipsen der betroffenen Stelle war möglich. Alles war nicht auf absolute Perfektion, sondern auf die schnelle und effektive Hilfe der Menschen vor Ort gemünzt.
Eine weitere große Herausforderung? - Stichwort Ressourcen: Was tun, wenn plötzlich so richtig gespart werden muss? An ruhigen Tagen werden natürlich auch kriegsunabhängige Alltags-Diagnosen der lokalen Bevölkerung versorgt, die halbwegs rasch behandelt werden müssen, da sie ja sonst keine andere Anlaufstelle haben. Wenn es dann aber wieder richtig mit Kriegshandlungen losgeht, wird das alles zweitrangig und es müssen Prioritäten gesetzt werden. Denn durch oftmals beschränkte Zugangswege aus dem Krisengebiet heraus und resultierend daraus, fehlende Möglichkeiten auf die Schnelle an Material zu kommen, heißt das für Schäberle vor allem: „Es gilt, dass natürlich nicht bei schweren Kriegsverletzungen, die hochakut sind, das Material ausgeht, weil man in den Tagen zuvor einen Leistenbruch versorgt hat.“ Leider führt das dazu, dass bei hohem Aufkommen Leuten selektiv nicht direkt geholfen werden kann.
Am Beispiel des Leistenbruches zeigt sich aber auch, was es heißt, mit deutlich reduzierten Mitteln zu arbeiten und aus einer medizinischen Aufgabe eine fast innovative zu machen. Bei der Versorgung von Leistenbrüchen in Sierra Leone beispielsweise, mussten sich Schäberles Nachfolger anstelle des Einsatzes von in der Medizin bekannten Netzimplantaten, die vor Ort nicht aufgetrieben werden konnten, mit der Versorgung durch ungewöhnliche Alternativen beschäftigen. Die Lösung des Problems: Die fand sich im regen Getümmel des Marktes in der Stadt, als das Team auf die Idee kam, beim lokalen Vorhangverkäufer nylonartigen Stoff zu kaufen, um diesen später zurechtzuschneiden, gründlich zu sterilisieren und ihn dann zum Verschluss des Leistenbruches zu verwenden. „Diese Art von Entscheidungen waren nicht immer einfach, aber wenn diese Dinge nicht zu besorgen waren, hat man Alternativen gesucht, die geeignet waren. Auch wenn es untypisch war, musste man in solchen Zusammenhängen einfach kreativ werden“, gibt Schäberle zu. Primär galt, dass die Funktion der betroffenen Körperstelle schnellstmöglich wiederhergestellt werden sollte und die betroffene Person, frühestmöglich wieder in ihr ohnehin momentan nicht einfaches Leben in der Krise, zurückkehren konnte.
Die Zukunft der Krisenhilfe
Auch in Zukunft, und da ist sich Schäberle sicher, werden die Umstände auf der Welt nicht dazu beitragen, dass es weniger Krisenhilfe bedarf. Ja, sogar das Gegenteil ist der Fall. Künftig wird die Weltbevölkerung eher noch mehr auf die Hilfe derjenigen bauen müssen, denen es besser geht. Aus Schäberles Sicht sind dafür vor allem zwei Gründe ausschlaggebend: Zum einen würden seiner Meinung nach Kriege immer weiter bestehen und sich auch weiter ausbreiten. Zum anderen werden auch die Folgen der Klimakatastrophe, die immer weiter fortschreitet, sich bemerkbar machen und Leute aus ihrer unbewohnbar werdenden Heimat vertreiben. Auch sie müssen durch Helfer vor Ort aufgefangen und versorgt werden. Fest steht: Ohne Hilfe geht es nicht, meint der Arzt. Es muss also weiterhin geholfen werden, auch wenn das für die Helfer bedeutet, dass sie ihren gewohnten Alltag verlassen und in der Fremde Hürden überwinden müssen.