Spiegel der Zeit
Donnerstag 7 Uhr. Es ist noch dunkel. Die blaue Mütze bis über beide Ohren gezogen. Der dicke Pullover ragt bis hoch an den Hals. Jochen Mayer steht zwischen Gemüse, Obst und Wein. Ringsherum schleppen Händler ihre vollgepackten Kisten aus den Transportern zum Stand. Ein Apfel rollt über den gepflasterten Steinboden. Von Kunden ist noch nichts zu sehen.
Jochen Mayer wurde auf dem Markt groß. Seit 50 Jahren führt er das Geschäft weiter, das seine Eltern einst begonnen haben. Dreimal die Woche. Von 7 bis 13 Uhr. Auf dem Marktplatz vor dem Stuttgarter Rathaus. „Ich bin ein bisschen verwöhnt. Wir hatten schon gute Zeiten, sehr gute Zeiten. Und jetzt ist es eher normal bis bescheiden“, sagt der 55-Jährige heute. Der Umsatz unter der Woche ist bis zu 20 Prozent gesunken. Doch das Lächeln verschwindet nicht aus seinem Gesicht. Die Arbeit macht ihm Spaß. Sie sei hart, das schon. Ein Knochenjob.
Langsam schlendern vereinzelt Leute auf den Markt. Hier ein Apfel to go, da eine Tüte Nüsse. Von weitem erkennt Mayer einen seiner Stammkunden. „Welchen Wein trinken wir heute? Rot oder weiß?", begrüßt er ihn. So stellt man ihn sich vor: Den typischen Marktgänger. Ein älterer Herr mit Stofftasche und Zeit. Ganz viel Zeit. Doch wo bleibt der Rest? Wo sind die Hausfrauen und Familien? Was ist mit den Geschäftsleuten und Studierenden?
Der Hunger wird überall gestillt. In der Kantine, in der Uni-Mensa oder in der Kita. Nur nicht Zuhause. Auch Mayer merkt, wie das ältere Publikum wegbricht und die jungen Leute nicht ausreichend nachkommen. „Die Generation der Akademiker zelebrieren das gute Essen nur am Wochenende. Aber unter der Woche fehlt die Muße und die Zeit auf den Markt zu gehen“, sagt er. Samstags hingegen wundert man sich, wo die Leute alle herkommen. Früher war das jeden Tag so. Ab 10 Uhr drängten sich die Bürger in die Gänge und kauften alles auf, was übriggeblieben war. Morgens hatten die Großhändler in der 1864 von König Wilhelm gestifteten Markthalle das Sagen. Doch die Bevölkerungszahl im Zeitalter der Industrialisierung stieg rasant. Eine neue, größere Markthalle musste her. Sie wurde 1914 errichtet und steht noch heute als Baudenkmal in der Stuttgarter Innenstadt. Aber das Marktgeschehen spielt sich längst nicht mehr nur zwischen diesen vier Wänden ab. Heute gibt es 29 Wochenmärkte und 450 Anbieter, die auf 8.500m Quadratmetern die Region Stuttgart mit frischer Ware versorgen.
Die Glocken des Rathauses schlagen 12 Uhr. Der Markt hat sich mittlerweile etwas gefüllt. Eine alte Frau hievt mit zitternden Händen einen Sack Äpfel in ihren randvollen Korb. Ein paar Meter weiter versucht eine Mutter Kind und Einkauf vom Marktplatz zu schleppen. „Die Leute können hier nirgendwo parken, die kriegen das Zeug nicht nach Hause“, sagt Mayer. Vor zwanzig Jahren gab es noch viele Parkplätze. Die Kunden kauften ein und füllten anschließend ihren Kofferraum. Heute zählen verstopfte Straßen und Feinstaubalarm zum Alltagswahnsinn in Stuttgart. Die Stadt kämpft dagegen an und reist ein Parkhaus nach dem anderen ab. „Zehn Kurzzeitparkplätze würden uns schon um einiges helfen“, meint Mayer. Doch auch er weiß, dass die Stadt diese Idee wohl kaum umsetzen wird.
Beamen wir uns in den Supermarkt. Eine Auswahl an zehn Salatsorten. Paprikas in rot, gelb, grün. Und Tomaten so groß, wie man sie noch nie gesehen hat. Die Supermärkte geben Gas. Wozu also ein Wochenmarkt? In versorgungstechnischer Hinsicht ist er längst überflüssig. Dennoch ist er wichtiger denn je. Beinahe ein Servicecenter für Kunden. „Wir klären die Leute über unsere Produkte und deren Regionalität auf. Darauf legen wir Wert und viele nehmen das auch dankend an“, sagt Mayer.
Auch Stefan Eysermans ist Verkäufer auf dem Marktplatz. In seinen Augen wandelt sich die Stimmung in der Stadt. „Das Leben wird schneller und für uns und die Kunden stressiger. Der Markt darf als Treffplatz nicht verloren gehen, sonst geht auch der Stadt etwas verloren“, sagt er.
Zeit, Kunden, Logistik – alles Mangelware für den Wochenmarkt. Doch Mayer bleibt gelassen: „So ein Markt muss dann eben wieder gesundschrumpfen. Das Angebot muss attraktiv und umfangreich bleiben – aber zehn Apfelstände verträgt der Markt jetzt halt nicht mehr so wie früher.“ Nur ein Markt auf dem eingekauft wird, überlebt.