Ich rechne mit allem: Kulturschock, Dreck und ganz viel Durchfall.
Wo die Liebe hinfliegt
Die Frauen tanzen in viel zu großen Jeans und Tanktops, während die Männer versuchen, sich in hautengen Kleidern zu bewegen. Der Song „Tiny Dancer“ von Elton John schallt aus den uralten Boxen der Strandbar und paart sich mit dem sanften Rauschen des Meeres. Es ist Vollmond. Mittendrin George und Svenja. Beide halten einen Jacky Cola in der Hand. Happy Hour - zwei für einen! George trägt lachend Svenjas Sommerkleid und hat es längst mit ein paar Tropfen besudelt. Svenja hat besser aufgepasst, muss sich die schwarzen Shorts aber alle paar Minuten wieder bis zum Bauchnabel hochziehen. Sie haben sich in Vietnam kennengelernt. George ist aus England, Svenja aus Deutschland. Es scheint, als wären sie schon ewig zusammen. Von Caro und Alejandro sieht man nur noch die Siluette. Sie sitzen ein paar Meter weiter Arm in Arm im Sand. Caro aus Deutschland, Alejandro aus Spanien. Auf dem Billiardtisch wird längst kein Billiard mehr gespielt. Im Glitzertop und mit Gitarre hockt dort Jack mit den Rastas. Angehimmelt wird der Neuseeländer von der deutschen Lara. Von außen betrachtet muss dieser Moment ein kurioses Bild abgeben – für die Backpacker ist es der Himmel auf Erden.
Drei Wochen zuvor. Meine erste große Reise steht an. Vor mir ein zehn Kilo schwerer Backpacker-Rucksack, den ich mindestens schon fünf Mal umsortiert habe. Das erste Mal außerhalb Europas. Ich bin unglaublich aufgeregt und habe im Grunde überhaupt keine Ahnung vom Reisen. Ich rechne mit allem: Kulturschock, Dreck und ganz viel Durchfall. Dass mir auf meiner Reise so viel Liebe begegnet, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Wenn Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern zueinander finden - echte Liebe oder nur eine Verwechslung durch Adrenalin?
Doktor Arthur Aron von der Stony-Brook-Universität in New York schreibt in seiner Forschung, dass das Liebesgefühl eine Verwechslung des Körpers sei. Erleben wir im Urlaub spannende Dinge und haben gleichzeitig einen attraktiven Menschen in unserer Nähe, kann dieses Gefühl als Liebe interpretiert werden. In seiner Studie zeigt er, dass sich Menschen, die sich beispielsweise auf wackeligen Hängebrücken kennengelernt haben, mehr zueinander hingezogen fühlen als Menschen, die sich auf einer normalen Brücke treffen. Der Körper stößt in aufregenden Situationen Adrenalin aus – wir werden aufgeregt und das Herz schlägt schneller. Es fühlt sich genauso an, wie das Verliebtsein.
In zwei Stunden geht der Flieger. Ich treffe die anderen vier Mädels am Flughafen. Die meisten sind schon echte Reiseprofis. Neuseeland, Australien, Südamerika, Thailand – alles schon gesehen. Eine davon ist Nadja – sie erzählt uns beim Warten auf das Boarding von diesem einen Surfer-Typ, in den sie in Australien unsterblich verliebt war. Nach dem Urlaub hat sie nie wieder von ihm gehört. „Typische Urlaubsromanze“, nennt sie es.
Ab in den Flieger. Während ich mir Filme für die nächsten zwölf Stunden heraussuche, bekomme ich die ersten Sitznachbarn. Linh und Sven gesellen sich zu mir, während ihre drei Kinder hinter uns lauthals herumtollen. Linh ist aus Vietnam, Sven aus Deutschland. Vor 10 Jahren kennengelernt, seit 5 Jahren glücklich verheiratet. Ihre Liebesgeschichte ist schöner als jeder Film hier an Bord. Sven lernte Linh auf seiner Vietnamreise kennen. Sie arbeitete damals im Restaurant ihrer Eltern in Hoi An und brachte ihm seine Nudelsuppe. Die kurze Unterhaltung bestand nur aus ein paar Fetzen Englisch, die Linh herausbrachte. „Sie hat mich trotzdem fasziniert“, erzählt mir Sven. „Es war ihre Art zu Lächeln und wie sie mich ansah. Obwohl ich sie kaum verstanden habe.“ Beide prusten los. Mittlerweile spricht Linh fließend Deutsch. „Er ist während seines Urlaubs ständig wieder ins Restaurant gekommen. Irgendwann hat er mich zum Essen ausgeführt und dann haben wir uns regelmäßig getroffen.“ Die beiden necken sich durchgehend und wirken immer noch wie frisch verliebt.
Ein Paar, zwei Sprachen: Geht das überhaupt? Immer mehr Deutsche heiraten Nicht-Deutsche. Laut dem statistischen Bundesamt (2015) gibt es inzwischen knapp 1,2 Millionen deutsch-ausländische Paare. Allerdings ist das Scheidungsrisiko in binationalen Ehen um 64 Prozent höher als bei Partnern derselben Herkunft. Das Liebesleben wird laut Forschern komplizierter durch kulturelle Unterschiede, verschiedene Religionen und andere Rollenverständnisse. Ganz anders aber bei Linh und Sven.
Der restliche Flug ist der blanke Horror. Von wegen: Ich werde mir tolle Filme ansehen und sanft einschlafen. Ich mache kein Auge zu. Linh und Sven schlummern mittlerweile seelig neben mir und sogar ihre drei Mädchen sind mucksmäuschen still. Ich habe das Gefühl, das ganze Flugzeug schläft: Nur ich nicht. Endlich landen wir in Ho-Chi-Minh-City. Das ehemalige Saigon.
Sie sei noch nie richtig verliebt gewesen, hat sie mir einmal gesagt.
18 Uhr. In Vietnam ist es um diese Uhrzeit schon dunkel. Nach einem kurzen Schläfchen machen wir uns auf in die Stadt und sind überwältig von bunten Lichtern, lauter Musik, einer Masse an partyfreudigen Menschen und unzähligen Motorrollern. Es dauert nicht lange, bis uns ein Promoter aus Spanien in eine Hostelbar schleppt. Free Shots! Wir kennen uns eh nicht aus und haben sowieso keine Chance, den quirligen Lockenkopf loszuwerden. In der Bar wimmelt es nur so von Engländern, Australiern, Neuseeländern und Iren – als Deutsche sind wir hier wohl ziemlich unterbesetzt. Svenja ist eine von uns fünf Mädels. Nach einer Runde Limbo wird sie von einem gutaussehenden Kerl angesprochen. Fünf Minuten später stehen beide lachend an der Bar. Svenja ist 27, fertig mit dem Studium und arbeitet im PR-Bereich. Ihr Liebesleben lief bisher recht überschaubar. Hier und da mal ein Date, das aber nie wirklich gut lief. Sie sei noch nie richtig verliebt gewesen, hat sie mir einmal gesagt. Jetzt steht sie lachend bei diesem Engländer. George kommt aus der Nähe von Cambridge und studiert Medizin. Er wirkt äußerst charmant und sie sieht sehr glücklich neben ihm aus.
„Im Urlaub sind wir Menschen offener für neue Begegnungen.“ Franciska Wiegmann-Stoll ist Paartherapeutin in Schwieberdingen und erklärt mir nach meiner Reise, dass sie bei ihrer Arbeit auch mit Urlaubsromanzen zu tun hat. „Wir Deutschen sind im Alltag oft sehr akkurat. Jeder hat sein Ziel vor Augen – wir gehen einkaufen und denken dabei schon an die nächste Erledigung. So übersehen wir sehr viel. Auch mögliche Partner. Auf Reisen können wir uns entspannen und genießen das freie Lebensgefühl. Kulturelle Unterschiede erhöhen zudem die Spannung.“
An jeder Ecke läuft Ed Sheeran. Die Vietnamesen müssen ihn wahrlich lieben.
Wir finden uns ein paar Stunden später in einem Club wieder. An jeder Ecke läuft Ed Sheeran. Die Vietnamesen müssen ihn wahrlich lieben. George weicht immer noch nicht von Svenjas Seite und die beiden wirken schon seltsam vertraut. Wir lernen massenweise Leute kennen – Backpacker von überall her. Ronan und Jana haben sich auf ihrer Reise in Autralien getroffen. Ronan kommt aus Neuseeland und Jana aus Deutschland. Seitdem sind sie ein Paar, haben ihre Jobs hingeschmissen und reisen seit zwei Jahren um die Welt. Jana erzählt mir, dass ihr Englisch anfangs furchtbar war. Sie hatte Schwierigkeiten, ihren Ronan komplett zu verstehen. Trotzdem sei es Liebe auf den ersten Blick gewesen.
„Menschen haben feinste Antennen und konnten sich auch verständigen, bevor es Sprache gab.“ Eric Hegmann ist Parship-Coach in Hamburg. Nach meiner Reise spreche ich mit ihm über die Liebe auf Reisen. „Wir spüren sofort, wenn Körpersprache, Mimik, Gestik nicht stimmig sind. Das sind Fakten, die uns jemanden sympathisch oder unsympathisch erscheinen lassen. Liebe ist aber ein Tunwort. Es geht auf Dauer darum, was man macht, was man investiert und nicht, was man sich beim Sonnenuntergang ins Ohr flüstert.“
Zwei Tage später ziehen wir weiter – das nächste Ziel ist Da Lat. Svenja muss ihren George in Ho-Chi-Minh-City zurücklassen. Ich glaube, sie vermisst ihn ein bisschen. In Da Lat geht die Urlaubsstimmung etwas unter. Die Stadt liegt tief in den Bergen und ich stehe im strömenden Regen bei kühlen 20 Grad. Wir bleiben nicht mal zwei Tage. Verlieben tut sich hier keiner. Zu wenig Adrenalin? Weiter geht es nach Hoi An. Im Schlafbus treffen wir Lisa und Gordon. Lisa kommt aus Köln und hat ihren Gordon in Neuseeland kennengelernt. Sie - eine hübsche dunkelhaarige Frau, er - der tätowierte Rumtreiber-Typ. Mittlerweile reisen sie noch einen Monat gemeinsam durch Vietnam. „Vielleicht klappt es ja und er kommt mich danach mal in Deutschland besuchen“, lächelt sie mit leicht geröteten Wangen. „Ansonsten genieße ich einfach die Zeit mit ihm.“ Ich grinse zu Gordon. Er hat nichts mitbekommen – kann kein Deutsch. Ich frage mich während der weiteren Busfahrt, ob diese Beziehung im realen Leben überhaupt bestehen kann.
„In der Liebe ist alles möglich, wenn auch nicht alles gleich wahrscheinlich“, erklärt mir Paarship-Coach Eric Hegmann. Urlaubsflirts halten oft deshalb nicht, weil die Partner irgendwann zurück in ihr wahres Leben müssen und das oft räumlich sehr weit auseinander liegt. Allerdings gibt es auch Menschen, die sich ausschließlich im Urlaub verlieben. Das kann ein Zeichen von unbewusster Bindungsangst sein. Wenn man sich nur in unerreichbare Partner verliebt, mit denen man gar keine Beziehung aufbauen kann.“
Romantischer Zufall oder zuviel Sonne?
Angekommen im sonnigen Hoi An landen wir in einem richtigen Partyhostel. Pool und Bar inklusive. Das Urlaubsfeeling ist auf dem Höhepunkt und somit auch wieder Zeit zum Flirten. Meine Freundinnen Caro und Lara lernen gleich am ersten Abend jemanden kennen. Alejandro ist aus Spanien und genau Caros Typ. Lara versteht sich auf Anhieb mit Jack aus Neuseeland. Romantischer Zufall oder zuviel Sonne?
„Ob wir uns verlieben oder nicht, hängt auch davon ab, ob wir dafür bereit sind. Oft ist man im Urlaub dazu eher bereit.“ Paartherapeutin Franciska Wiegmann-Stoll sieht aber auch Schwierigkeiten darin, diese Verliebtheit in den Alltag zu integrieren. „Kommen die Partner aus verschiedenen Ländern, muss früher oder später einer der beiden alles aufgeben. Das geht einher mit Heimweh nach dem eigenen Land. Die Belastung kann schnell zum Scheitern der Beziehung führen.“
Ein paar Tage später überqueren wir auf Motorrollern den Wolkenpass von Hoi An nach Hue. Eine absolut malerische Landschaft. Wir Mädels sind längst nicht mehr allein – es haben sich Pärchen gebildet. Mit im Gepäck Alejandro, Jack und sogar George. Er ist Svenja nachgereist und die beiden wirken jetzt schon wie ein langjähriges Paar. Von Hue geht es auf die Insel Cat Ba. Unsere letzte Station. Das Hostel liegt direkt am Strand. Die Hängematten laden zum Entspannen und die Strandbar zum gemütlichen Bier ein. Ich hole mir eins. „Kiss me“ von Sixpence None The Richer klingt aus den Boxen. Wie passend. Der Vollmond hüllt den Strand in sanftes Licht. Hier muss man sich verlieben.
Das Motto heute: Klamottentausch.
Svenja und George scheinen sich nicht gesucht, aber gefunden zu haben. Sie tanzen eng umschlungen, als würden sie sich schon ewig kennen. George in Svenjas schwarzem Kleid, Svenja in seinen viel zu großen Shorts. Das Motto heute: Klamottentausch. Caro und Alejandro sitzen knutschend auf der abgenutzen Holzbank, die in dieser Atmosphäre wunderschön erscheint. Lara und Jack haben längst über den Durst getrunken und lachen ununterbrochen – es ist Happy Hour. Ein Bild völliger Gelöstheit, weit ab von alltäglichen Verpflichtungen. Ich lächle vor mich hin. Vielleicht doch wahre Gefühle? Svenja und George wollen es nach dem Urlaub miteinander versuchen. Eine Fernbeziehung von Deutschland nach London. Beide waren zuvor noch nie so verliebt, erzählen sie mir.
„Was spricht gegen Sonne und Unbeschwertheit? Es gibt in der Liebe keine Garantien und keine Sicherheit. Das macht sie aus. Unrealistisch ist, auf vermeintliche Garantien zu hoffen.“ Ich frage Eric Hegmann, was er Menschen nach der großen Urlaubsliebe rät. Er kennt einige Fälle, in denen aus dem Reiseflirt eine echte Liebe geworden ist. „Wenn Sie glücklich verliebt sind: Versuchen Sie erst eine Fernbeziehung. Liebe sollte man immer eine Chance geben. Sie benötigt aber zwei Dinge: Mut und Vertrauen.“
Die Klänge von „Tiny Dancer“ von Elton John schweben über der Insel. Ob diese Pärchen eine Zukunft haben, weiß im Moment keiner. Aber eins ist sicher: dieser Moment wird ewig in ihren Herzen bleiben. Das Gefühl von Liebe, Freiheit und Unbeschwertheit.