Wie Social Media Subkulturen zerstört
Wer innerhalb der letzten Jahre ins Rabbithole der Tiktoks, Instagram-Reels oder Youtube-Shorts gestürzt ist, kennt sie vermutlich besser, als ihm*ihr lieb ist. Mal tragen sie fetten Eyeliner und grobgliedrigen Schmuck, mal propagieren sie die Idee einer naturgewandten Idylle. Mal sind sie edgy, mal konformistisch. Was sie gemeinsam haben? Genauso schnell und plötzlich, wie sie auf unseren For you-Pages und Instagram-Feeds aufgetaucht sind, sind sie auch schon wieder in Vergessenheit geraten. Die Rede ist von sogenannten „Aesthetics“ wie dem Clean Girl oder dem Rockstar Girlfriend – also digitalen Bubbles, die sich über bestimmte Styles, Musikgenres und Konsumgüter identifizieren. Eine Subkulturen-Renaissance à la Gen Z also? Falsch gedacht, denn von dem, was damals kreativ und revolutionär war, ist im Zeitalter von Tiktok und Co. nur eine leere Hülle übriggeblieben.
Image vs. Inhalt
Werfen wir einen Blick zurück in die Vergangenheit: Ursprünglich als Jugendbewegung in den USA entstanden, erreichten die Hippies als Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg ihren Höhepunkt – und tragen maßgeblich zu den Umbrüchen der 68er-Bewegung bei. Im politisch verwahrlosten New Yorker Stadtteil Bronx wird in der afroamerikanischen Community der 70er-Jahre der Hip Hop geboren. Und wenn wir ins London der 80er-Jahre schauen, wird uns schnell bewusst, dass die wachsende Punk-Szene die Perspektivlosigkeit der Wirtschaftskrise Großbritanniens zum Ausdruck bringt.
Subkulturen waren schon immer ein Produkt ihrer gesellschaftlichen und politischen Umstände. Nicht selten wuchsen sie aus den kollektiven Ängsten und Frustrationen marginalisierter sozialer Schichten, die sich in Musik, Mode, Kunst und der Konstitution eines geteilten Weltbilds manifestierten. Und genau hier sitzt der Knackpunkt: Während Subkulturen gesellschaftliche Missstände als Ausgangspunkt für künstlerischen Ausdruck und politische Haltungen nutzen, beschränken Nischenphänomene auf Social Media ihr Dasein auf ihre Optik. Einen klar umrissenen Look, dessen Bestandteile mit wenigen Klicks im Online-Store von Urban Outfitters gekauft werden können. Wer sich die Techno-Ästhetik aneignen will, besorgt sich neben der schnellen Brille und dem Rave-Outfit am besten auch noch einen Termin für ein Tribal-Tattoo. Und als Rockstar Girlfriend wärst du kein Rockstar Girlfriend, hättest du keine 300 Euro für neue Lederjacken und Bikerboots ausgegeben.
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Subkultur ist kein Einwegprodukt
Doch kann ein zunächst oberflächliches Interesse an einem Trend nicht als Ausgangspunkt dafür dienen, sich zu vernetzen und eine neue Subkultur zu entwickeln? In einer idealen Welt sind soziale Netzwerke Orte des gesellschaftlichen Miteinanders, an denen gleichberechtigte Teilhabe, Austausch und Kreativität an der Tagesordnung stehen. Doch diese Utopie begeht einen Denkfehler: Sie vergisst die Tatsache, dass soziale Medien keine wohltätigen Organisationen, sondern Konzerne mit wirtschaftlichen Interessen sind. Und dass hinter der Funktionsweise ihrer Trends Algorithmen stecken, die User*innen so lange wie möglich an ihre Plattformen fesseln sollen. Sie bevorzugen das Kurzlebige gegenüber dem Konstanten. Das Leichtverdauliche gegenüber dem Komplexen. Das Konsumierbare und Käufliche gegenüber Gemeinschaft und Kultur. Bevor sich ein Social Media-Trend samt seiner Optik, seiner popkulturellen Interessen und Haltungen überhaupt subkulturell strukturieren kann, wurde er bereits auf der Müllhalde des Trendzyklus entsorgt.
Punk’s not dead
Sollten wir Subkulturen also dem Sterben überlassen? In einer Zeit, in der Trump wiedergewählt wird, ein egozentrischer Tech-Milliardär politische Ämter besetzt und Europa einen Rechtsruck erlebt, gewinnt die Existenz von Subkulturen eine Notwendigkeit. Denn im Gegensatz zu inhaltslosen Social Media-Nischen stiften sie ein Gefühl von Solidarität innerhalb von konstanten Gruppen, die sich nicht über austauschbare Trends und Selbstoptimierung, sondern über gemeinsame Werte und kreativen Ausdruck definieren. Wir müssen den Absprung vom digitalen in den physischen Raum schaffen, uns persönlich vernetzen und die Kurzlebigkeit dieser Trends hinterfragen. Und Social Media bewusst als Plattform nutzen, die uns verbindet, anstatt uns in Microbubbles und Splittergruppen zu zerteilen.
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