Boreout

Der Geist dreht durch, wenn die Tasten still stehen

Viele Boreout-Betroffene sind im ständigen Kampf mit der Zeit
12. Mai 2022
Unmotiviert, gelangweilt, erschöpft – und damit Außenseiter*in der Gesellschaft. Wenn Unterforderung auf der Arbeit den Alltag vergiftet und was es bedeutet, von dem Boreout-Syndrom betroffen zu sein.

Der erste Blick in den Spiegel. Nicole* sieht dunkle Ringe unter den Augen, ihre Lider sind schwer. Die Strapazen der letzten Wochen und Monate hängen wie eine graue Wolke über ihr, als sie zur Arbeit fährt. Sie ist Anfang 30 und im Personalcontrolling tätig. Ein Blick auf die Uhr – noch vier Stunden bis zur Mittagspause, noch acht Stunden bis zum Feierabend. Gepaart mit der großen Frage, die wie ein Elefant im Raum steht: Was macht man mit der Zeit, wenn man sie nicht füllen kann?

Diese Frage stellen sich Betroffene des sogenannten Boreout-Syndroms tagtäglich. Was auf Deutsch „ausgelangweilt“ heißt, beschreibt eine ausgeprägte Unterforderung im Arbeitsleben. Einer Stressstudie der Techniker Krankenkasse zufolge fühlten sich 2021 zehn Prozent der befragten Arbeitnehmer*innen in Deutschland unterfordert. Doch das Boreout-Syndrom ist laut den Autoren des Buches „Diagnose Boreout“, Philippe Rothlin und Peter Werner, mehr als nur eine Unterforderung im Beruf. Für die beiden zeichnet sich das Syndrom durch drei Faktoren aus, die für die „Diagnose Boreout“ entscheidend sind.

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Quelle: "Diagnose Boreout - Wenn Langeweile krank macht", Rothlin, Werder, 2007 | Quelle: Emily Lang

Nicole hat bereits alle ihre Aufgaben am Vortag erledigt. Ihre Tasten stehen still. Ihr Bildschirm ist an, doch sie starrt nur in die Leere der Pixel. Ihr näheres Umfeld gibt ihr immer wieder zu spüren, dass die Situation doch gar nicht so schlimm sei. Sie verdiene gutes Geld und müsse nichts dafür tun, heißt es. Was für manche Menschen wie Luxus klingt, ist für Nicole und andere Betroffene eine starke Belastung. Für die Psyche. Für den Körper. Für die Seele.

Das Missverständnis der Langeweile

Dass Nicole nicht direkt aus der Situation flieht, könnte auf ein gesellschaftliches Grundproblem zurückzuführen sein. Ein arbeitendes Mitglied der Gesellschaft stehe laut Elisabeth Prammer, Autorin des Buches „Boreout – Biografien der Unterforderung und Langeweile“, ständig unter Leistungsdruck. Überlastung und Stress komme nicht selten beim modernen Arbeitnehmenden vor. Deshalb sei laut der Psychologie-Studentin Nathalie Koblischke die vorherrschende Meinung der Bevölkerung: Langeweile sei etwas Beneidenswertes. Es sei schön, im stressigen Alltag auch mal eine Pause zu nehmen. Sie sieht in dieser Auffassung jedoch ein Problem. “Ein übliches Missverständnis in der Gesellschaft ist, dass Langeweile etwas Positives ist”, berichtet sie. Dabei könne Langeweile auch eine belastende und unangenehme Emotion sein. Genau wegen diesem Missverständnis ist es für Boreout-Betroffene schwierig, sich über den scheinbar wünschenswerten Zustand zu beschweren. Dieses Bild vom perfekten Arbeitnehmenden liefert eine Steilvorlage für das Boreout-Syndrom. Aus Angst, negativ aufzufallen, reden Betroffene häufig nicht über ihre Beschwerden. Das gesellschaftliche Bild, Arbeit zu leisten und einen Beitrag zum Gemeinwohl beizutragen, erhöht den Druck. „Du fühlst dich einfach so, als ob du keinen Mehrwert beiträgst. Du bekommst Geld für nichts“, erzählt Nicole.

Bis heute ist das Phänomen keine anerkannte medizinische Diagnose. Das könnte daher kommen, dass Unterforderung im Gegensatz zu Überforderung weniger akzeptiert wird und eher versteckt wird. Laut Nektaria Tagalidou, eine Psychologin des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation, wird Mehrarbeit heutzutage als Ehrgeiz und Leistung gesehen. „Da ich aus dem Bereich psychischer Erkrankungen komme, sehe ich die Romantisierung von Überstunden problematisch“, sagt sie dazu. Der Gegenspieler Burnout kann durch den offenen Umgang leichter erkannt werden als das Boreout-Syndrom. Dabei unterscheiden sich die Folgen von Langeweile im Arbeitsleben kaum von den Folgen des Burnout-Syndroms.

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Die Abgrenzung zwischen dem Burnout- und Boreout-Syndrom | Quelle: Emily Lang

Nicole erfährt die Folgen der beruflichen Unzufriedenheit am eigenen Leib. Es beginnt mit einem Hörsturz. Die Diagnose vom Arzt: Stress. Stress? Vom Nichtstun? Nicole beschreibt es als einen Motor im Kopf, der sich ständig fragt, wie er der Situation schnellstmöglich entfliehen kann. Sie wird krankgeschrieben und schottet sich von ihrer Arbeit, der Gesellschaft und fast jeglicher sozialen Interaktion ab. „Es war der Sommer, in dem es ultra heiß war. Alle Rollläden waren unten, trotzdem war es mir nicht dunkel genug“, erzählt sie. Das Haus verlässt sie nur noch für Arzttermine.

„Es war der Sommer, in dem es ultra heiß war. Alle Rollläden waren unten, trotzdem war es mir nicht dunkel genug.“

Nicole

Für Nathalie Koblischke klingt dieses Verhalten nach einer depressiven Episode. „Für mich sind Burnout und Boreout nichts anderes wie eine Depression, die man auf den Arbeitsmarkt beziehen kann“, sagt sie dazu. Zu Nicoles Hörsturz gesellt sich eine Fehlfunktion der Schilddrüse hinzu. Alles Auswirkungen von psychischem Unwohlsein und Stress.

Was können wir tun, um Boreout zu vermeiden?

Nektaria Tagalidou hat klare Lösungsansätze: Eine bessere Kommunikationskultur in Unternehmen und ein Umdenken bei Führungskräften. Sie wünscht sich, dass mit der Ansprache von Problemen nichts Negatives mehr verbunden wird, sondern ein positives Zeichen von Eigeninitiative.

Dr. Nektaria Tagalidou: Psychologin im Team „Applied Neurocognitive Systems“ des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO)

Die Verantwortung läge aber nicht nur bei der Arbeitswelt, sagt Nathalie Koblischke. Nur die Kombination aus einer funktionierenden Kommunikation in der Gesellschaft und in der Arbeitskultur könne Boreout vermeiden. Menschen müssen sich laut Nathalie Koblischke darüber bewusst werden: Arbeit ist mehr als nur Geldverdienen. Stattdessen sei es wichtig, zu verstehen, dass das Wohlfühlen am Arbeitsplatz elementar für mentale und physische Gesundheit sei.

Psychologie-Studentin (MA) Nathalie Koblischke erzählt, was die Gesellschaft ändern könnte.

Als Nicole morgens am Frühstückstisch sitzt und in ihr Smartphone blickt, fällt ihr ein Artikel ins Auge. Auf der Titelseite steht: Das Boreout-Syndrom. Sie findet sich in dem Artikel wieder. Endlich kann sie benennen, was für andere Personen in der Gesellschaft so absurd klingt. Auch Nathalie Koblischke findet es gut, dass das Syndrom immer bekannter wird. Betroffene fühlen sich durch die wachsende Aufmerksamkeit gesehen und bekommen eine Stimme.

Nicole entkommt dem Boreout-Syndrom. Nach vielen Monaten bringt sie den Mut auf, für ihre Gesundheit einzustehen. Die Gesellschaft außen vor zu lassen. Den Schritt in ein neues Leben, in eine neue Stelle und später in ein neues Unternehmen zu wagen. Heute ist sie glücklich mit ihrer Arbeit. Sie führt ein ausgeglichenes Privatleben nach dem Arbeitstag und fühlt sich erfüllt. Alles, was sie sich vor ein paar Jahren in ihrer Boreout-Misere nie hätte vorstellen können.

*Die Protagonistin Nicole (Nachname aus Anonymitätsgründen nicht genannt) ist der Redakteurin Emily Lang privat bekannt.