"Niemand erwartet, dass ich stehle - mein Gesicht verrät mich nicht, ich lächle. Man sieht es mir einfach nicht an."
Wenn Stehlen zum Drang wird
Es gibt sie, diese Momente, in denen die Gelegenheit zum Diebstahl verlockend scheint – sei es, weil die Mitarbeiter*innen kurz abgelenkt sind oder ein verführerischer Gegenstand unbeaufsichtigt am Ausgang liegt – nur die Wenigsten ergreifen diese Möglichkeit. Doch was passiert, wenn das regelmäßige Stehlen zur ernsthaften psychischen Störung wird? Laut Karina Ortner kann eine übermäßige Häufung von Diebstählen auf eine psychische Erkrankung hinweisen, die als Kleptomanie bekannt ist. Sie zählt zur Gruppe der Impulskontrollstörungen und ist durch den unwiderstehlichen Drang gekennzeichnet, Dinge zu stehlen, die keinerlei persönlichen oder materiellen Wert haben.
Doch wie gestaltet sich das Leben mit Kleptomanie? Aaron berichtet, wie er selbst mit den Symptomen dieser Störung zu kämpfen hat.
Ein gewöhnlicher Einkauf mit Aaron
Es ist Samstag und Aarons Kühlschrank weist gähnende Leere auf. Um nicht hungern zu müssen, macht er sich allein auf den Weg zum Supermarkt. Voller Anspannung versucht er sich ausschließlich auf die Artikel seiner Einkaufsliste zu fokussieren. Als Aaron schließlich seinen Wocheneinkauf bezahlt und vor dem Supermarkt auf den Bus wartet, greift er in seine Jackentasche und entdeckt voller Entsetzen Gegenstände, die er gar nicht gekauft hat. Aus dem Impuls heraus hat er unkontrolliert Artikel eingesteckt. Für Aaron ist das eine alte Leier. In seiner Wohnung häufen sich mittlerweile Gegenstände wie Katzenfutter, Badesalz oder Gesichtsmasken, für die Aaron weder eine Verwendung findet, noch dafür gezahlt hat. In einer Kiste unter seinem Bett findet sich sein über die Zeit angesammeltes Diebesgut.
Mit seinen 22 Jahren kann Aron bereits auf eine abgeschlossene Ausbildung zurückblicken. Aaron ist sich bewusst, dass sein unauffälliges Äußeres und sein freundliches Lächeln niemanden darauf schließen lassen, dass er stiehlt. Wie er selbst sagt: "Niemand erwartet, dass ich stehle – mein Gesicht verrät mich nicht, ich lächle. Man sieht es mir einfach nicht an." Dass er noch nie erwischt wurde, bestätigt seine Annahme. Sobald er sich sicher und unbeobachtet fühlt, wandern Gegenstände wahllos in seine Tasche, nur um danach ein Leben in Aarons geheimer Box zu führen oder verschenkt zu werden.
Therapieansätze: Chancen auf Besserung
Doch wie kann man von Kleptomanie betroffenen Personen helfen und was zeichnet diese psychische Erkrankung aus? Roland Hog ist Psychotherapeut in der Neuropsychiatrie des Zentrums für Psychiatrie in Zwiefalten. Während seiner beruflichen Laufbahn therapierte er bereits Kleptomaniepatient*innen.
Der Unterschied zwischen gelegentlichem Stehlen und Kleptomanie ist aus Sicht von Hog enorm groß. Kleptomanie weise einen sehr spezifischen Ablauf auf, welcher sich vor allem durch die emotionalen Phasen während des Tatvorgangs auszeichne. Menschen mit Kleptomanie stehlen nicht aus Eigenbedarf. Aus Scham verstecken, verschenken oder entsorgen sie ihr Diebesgut.
Die Diagnose von Kleptomanie gestalte sich aufgrund ihrer Seltenheit als herausfordernd. Durch die enorme Scham für ihre Taten suchen nur wenige Betroffene den Weg zu einem Psychologen, weshalb die genaue Zahl der Kleptoman*innen nicht bekannt ist. Im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungen gibt es keine spezifischen Testverfahren für diese Störung. Eine Diagnose sei daher nur im Ausschlussverfahren möglich. Bei Nichtvorliegen von Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Traumata oder Suchterkrankungen, erscheine eine Kleptomanie immer wahrscheinlicher. Bei solchen Erkrankungen können ähnliche Symptome auftreten, die meist aber keine Kleptomanie darstellen. Häufig wird das Problem erst erkannt, wenn bereits Strafanzeigen wegen Diebstahls vorliegen. Hog erinnert sich an einen Fall, in dem bereits über 1.000 Strafanzeigen gegen die betroffene Person vorlagen.
Es sei möglich, Kleptomanie zu behandeln. Ein Behandlungsansatz hierfür wäre beispielsweise die Verhaltenstherapie. Während der Therapiesitzung werden Patient*innen mit ihren emotionalen Zuständen konfrontiert, um das eigene Verhalten besser zu kontrollieren und negative Folgen zu vermeiden.
Hog berichtet von zwei Patient*innen, bei denen die Kleptomanie aus Angst vor ihrem Trauma und dem Gefühl mangelnder Freiheit entstand. Die Betroffenen hatten ein starkes Schamgefühl und litten unter schlechtem Gewissen. Sie wurden mehrfach wegen Diebstahl angezeigt und standen fast vor einer Einweisung in eine forensische psychiatrische Einrichtung für Straftäter. Ihre Familien versuchten der Erkrankung durch Regeln entgegenzuwirken. Die Auswirkungen der Kleptomanie gehen weit über das Verhalten der Betroffenen hinaus und beeinflussen das gesamte familiäre Umfeld. Das ständige Misstrauen und die Notwendigkeit von Kontrollmaßnahmen belasten sowohl die Betroffenen als auch ihre Angehörigen erheblich.
Zwar hat sich Aaron aus Scham nie zu einem Psychologen getraut, allerdings vermutet er mittlerweile selbst, dass er kleptomanische Züge aufweist. Trotz des Wissens um Therapiemöglichkeiten verzichtet Aaron weiterhin auf professionelle Hilfe. Er vertraut darauf, sein Problem eigenständig zu bewältigen und hofft auf eine Verbesserung ohne externe Unterstützung.
Die Redakteurin steht in freundschaftlicher Beziehung zu dem Protagonisten Aaron.
Der Name des Protagonisten Aaron wurde geändert. Die Identität ist der Redaktion bekannt.