„Auffällig ist, dass die Ausdrucksfähigkeit einiger Kinder eingeschränkt ist. Sie können oft keine vollständigen Sätze bilden.“
Wenn „cringe“ und „sus“ den Alltag erobern
Soziale Medien beeinflussen zunehmend die Sprachentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Diese Entwicklung ist vor allem in den letzten Jahren mit dem verstärkten Social Media Konsum von Plattformen wie TikTok, Instagram und YouTube zu beobachten. Junge Nutzer*innen übernehmen Sprachmuster aus digitalen Inhalten, die sie regelmäßig konsumieren. Doch warum ist das so? Der Einfluss sozialer Medien auf die Sprache erklärt sich durch deren Reichweite, schnelle Verbreitung und den Wunsch nach Zugehörigkeit.
Schon im Kindesalter übernehmen Kinder Wörter und Ausdrucksweisen aus der digitalen Welt. Louise Haiges, eine Erzieherin aus Bönnigheim, stellt fest, dass Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren zunehmend Begriffe wie „Digga“ oder „Alter“ verwenden. Auch Stefanie Martin, Lehrerin an einer Grundschule in Bad Cannstatt, beobachtet, dass bei Kindern, die soziale Medien nutzen, mehrere sprachliche Trends auffallen. Dazu gehören die verstärkte Verwendung von Anglizismen wie „cringe“ (unangenehm, peinlich) oder „sus“ (verdächtig, abgeleitet von „suspicious“) sowie Abkürzungen wie „LOL“ (laugh out loud) oder „WTF“ (what the fuck).
Haiges erwähnt, dass Kinder, die regelmäßig mit sozialen Medien in Kontakt kommen, ihrer Meinung nach einen reduzierten Wortschatz aufzeigen. Sie nutzen außerdem weniger Höflichkeitsformen. Im Vergleich dazu seien Gleichaltrige, die weniger mit sozialen Medien zu tun haben, sprachlich vielfältiger aufgestellt. Diese Veränderungen seien eine frühe Folge der Mediennutzung und zeigen sich immer häufiger in alltäglichen Gesprächen. Martin ergänzt, dass viele Kinder sprachliche Phrasen und Ausdrücke verwenden, die sie von Influencer*innen aus dem Unterhaltungsbereich kennen. Diese stammen oft aus Memes oder Videos von Plattformen wie TikTok, YouTube oder Instagram und seien häufig nur verständlich, wenn das zugrunde liegende Meme bekannt sei. Zudem verändere sich auch die Ausdrucksfähigkeit deutlich. „Auffällig ist, dass die Ausdrucksfähigkeit einiger Kinder eingeschränkt ist. Sie können oft keine vollständigen Sätze bilden“, erwähnt Martin. Diese sprachlichen Muster werden häufig durch die schnelle, vereinfachte Kommunikation in sozialen Medien geprägt.
Dieser Trend setzt sich bei Jugendlichen fort. Jannis Androutsopoulos, Professor für Linguistik des Deutschen und Medienlinguistik an der Universität Hamburg, erklärt: „Soziale Medien beeinflussen nicht die gesamte Sprache, aber sie verändern Wortschatz und bestimmte Ausdrucksformate.“ Jugendliche übernehmen zunehmend neue Sprachmuster und integrieren sie in ihre gesprochene Sprache. Carlo Sommer, Professor für Kommunikationspsychologie und Sprachwissenschaften an der Hochschule Darmstadt, ergänzt: „Emojis und Memes ersetzen nicht die Sprache, sie erweitern sie. Allerdings können sie komplexe Aussagen vereinfachen, was die Ausdrucksfähigkeit der Jugendlichen einschränken kann.“
Ein anschauliches Beispiel für die Dynamik dieser Veränderungen bieten die beliebtesten Jugendwörter der letzten Jahre. Sie verdeutlichen, welche sprachlichen Trends sich durchgesetzt haben und wie soziale Medien diese beeinflussen. Begriffe wie „lost“ oder „cringe“ zeigen, wie schnell neue Wörter durch das Internet und soziale Medien bekannt werden. Solche Wörter entstehen oft aus Trends, Serien oder Spielen, die im Internet populär sind. Sie spiegeln wider, was Jugendliche beschäftigt, welche Themen sie wichtig finden und wie sie sich ausdrücken möchten.
Ein Blick auf die beliebtesten Jugendwörter der vergangenen Jahre zeigt, wie dynamisch die Sprachentwicklung durch soziale Medien beeinflusst wird. Diese Wörter spiegeln nicht nur aktuelle Trends wider, sondern verdeutlichen auch, wie unterschiedliche Jugendkulturen die Sprache prägen. Ein weiterer wichtiger Faktor für diesen Wandel sei laut Christa Dürscheid, Professorin für Deutsche Sprache an der Universität Zürich, die verschiedenen Milieus und Interessensgemeinschaften, welche unterschiedliche Inhalte in sozialen Medien konsumieren. Diese Unterschiede beeinflussen den Wortschatz und die Sprachmuster, die in spezifischen Gruppen verwendet werden. „Die Verwendung bestimmter Wörter und Ausdrucksweisen innerhalb von Gruppen dient weniger der Abgrenzung von der älteren Generation, sondern eher dem Herstellen und Stärken einer Gruppenidentität“, erklärt Dürscheid. So würde die Jugendsprache zu einem Markenzeichen sozialer Zugehörigkeit werden und das Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Gruppe fördern.
Deine Meinung interessiert uns
Ja
Nein
Neben der sozialen Zugehörigkeit wirken sich soziale Medien auch darauf aus, wie Jugendliche Informationen verarbeiten. Sommer warnt, dass die ständige Nutzung von Smartphones und der schnelle Wechsel zwischen Inhalten dazu führen kann, dass Informationen weniger tiefgründig verarbeitet werden. Dies kann die Fähigkeit zur differenzierten Kommunikation und kritischen Auseinandersetzung mit komplexen Themen beeinträchtigen.
Aufgrund der permanenten Präsenz der digitalen Medien ist die Rolle der Erwachsenen entscheidend. Insbesondere wenn es darum geht, die sprachlichen und kognitiven Veränderungen zu begleiten. „Eltern und Pädagogen sollten mit ihren Kindern über konsumierte Inhalte sprechen und diese gemeinsam reflektieren“, erklärt Androutsopoulos. „Dieser Austausch fördert das Verständnis und die Fähigkeit, Medieninhalte kritisch zu hinterfragen“. Auf diese Weise können Kinder und Jugendliche unterstützt werden, eine reflektierte und bewusste Nutzung von Sprache und Medien zu entwickeln.
In diesem Kontext zeigt sich, wie rasant soziale Medien die Sprache junger Menschen verändern. Diese Entwicklung wirft die Frage auf, wie Sprache in einer zunehmend digitalisierten Welt genutzt wird. Anpassung ist notwendig, aber mit Bedacht. Es gilt, neue Ausdrucksformen zu integrieren, ohne die sprachliche Vielfalt zu verlieren. Eltern und Pädagogen sind gefragt, eine aktive Rolle einzunehmen. Statt den Wandel nur zu beobachten, sollten sie Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, ihre Mediennutzung kritisch zu hinterfragen und bewusst damit umzugehen. So bleibt Sprache nicht nur ein Spiegel von Trends, sondern fördert auch kreative und differenzierte Ausdrucksformen.