Vier Klischees über den Nahen Osten, die so nicht stimmen
1 – Der Nahe Osten als „Dauer-Kriegsgebiet“
Der sogenannte Friedensindex zeigt: Syrien war vor Kriegsbeginn ein weit überdurchschnittlich friedliches Land. Genehmigungen für Waffenbesitz wurden in der Regel nur für Angehörige der Sicherheitskräfte, einigen Regierungsbeamten oder in seltenen Fällen für Personen mit besonderen Schutzbedürfnissen erteilt. Laut OurWorldInData.org gab es von 1989 bis 2010, dem Jahr vor dem Krieg, nur zwei Tote in bewaffneten Konflikten. Dennoch gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder politische und komplexe Konflikte.
Demnach war Syrien also vor dem Krieg vergleichbar mit anderen, friedlichere Ländern im Nahen Osten, wie beispielsweise Kuwait. Das liegt auf dem weltweiten Friedensranking auf Platz 25, also lediglich fünf Plätze hinter Deutschland. Katar liegt mit Platz 29 sogar vor Schweden. Aber auch Oman, Jordanien, Tunesien und andere Länder schneiden im Global Peace Index (GPI) 2024 des Institute for Economics and Peace (IEP) gut ab.
2 – Ölwirtschaft als einzige wirtschaftliche Quelle
Marokko hat keine signifikante Ölindustrie – dennoch ist sein BIP (Bruttoinlandsprodukt) in den letzten Jahren jeweils pro Jahr um drei bis vier Prozent gestiegen. Dies wird hauptsächlich durch Sektoren wie Landwirtschaft, Tourismus und Industrie getragen. Besonders wichtig ist dabei die boomende Automobil- und Luftfahrtindustrie.
Laut Weltbank wuchs Jordaniens Wirtschaft 2023 um 2,7 Prozent. Treiber waren Rekordwachstum in der Industrie, starke Leistungen in Landwirtschaft und Dienstleistungen sowie Spitzenwerte in Gastronomie und Hotellerie. Das Land entwickelt sich zudem zunehmend zu einem Zentrum für Technologie und Start-ups im Nahen Osten. Auch andere Länder wie Kuwait, Saudi-Arabien, Katar und Tunesien investieren verstärkt in Sektoren wie Technologie und erneuerbare Energien sowie in weitere Wachstumsbranchen.
3 – Homogene Gesellschaften ohne Diversität
Neben der dominierenden arabisch-muslimischen Bevölkerung sind im Nahen Osten auch viele andere Religionen und Ethnizitäten vertreten. Vor dem Krieg im Jahr 2011 machten Christen noch 10 Prozent der Bevölkerung Syriens aus. Im Libanon sind etwa 34 Prozent der Bevölkerung Christen.
Auch Juden waren in vielen Regionen des Nahen Ostens wie im Jemen oder auch dem Irak jahrhundertelang wohnhaft. Heute verfügt jedoch nur noch Tunesien über eine signifikante jüdische Minderheit. Doch nicht nur religiöse, sondern auch ethnische Vielfalt ist ein wichtiger Bestandteil des Nahen Ostens. Berber (Amazigh) in Nordafrika, Kurden in Syrien und Irak sowie Armenier und Assyrer im Libanon, Syrien und Irak bereichern die Region mit ihren eigenen Sprachen und kulturellen Besonderheiten.
4 – Armut und geringe Lebensqualität im Alltag
Wenn wir über Länder im Nahen Osten sprechen, die sich in Kriegen oder instabilen Lagen befinden, ist es selbstverständlich, dass die Lebensqualität gering ist. Trotzdem, wenn wir das Ranking des durchschnittlichen monatlichen Nettogehalts ansehen, führen mehrere arabische Länder wie Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate die Liste an, mit durchschnittlichen Monatsgehältern von 3.991 Dollar und 3.363 Dollar.
Kuwait, Oman und Saudi-Arabien folgen mit durchschnittlichen Gehältern zwischen 2.221 Dollar und 3.054 Dollar. Mit einem HDI (Human Development Index) von 0,875 zählt Katar zudem laut UN-Definition zu den hochentwickelten Volkswirtschaften. Also ist der Nahe Osten weit mehr als Konflikte und Krisen – er zeigt beeindruckende Vielfalt, wirtschaftliche Dynamik und kulturellen Reichtum.