Studium mit Hindernissen
Der Tag beginnt für Sarah bereits um kurz nach 6 Uhr, wenn der Wecker sie aus dem Schlaf reißt. Noch vor dem Zähneputzen steht für sie die tägliche Einnahme ihrer Medikamente an. Danach geht es an den meisten Tagen direkt ins Fitnessstudio. Sarah braucht den sportlichen Ausgleich, um den Kopf freizubekommen. Wenn sie morgens das Haus verlässt, ist es um diese Jahreszeit noch dunkel. Pünktlich um 8 Uhr sitzt Sarah dann in der Bibliothek. Derzeit steckt sie mitten in den Vorbereitungen für das erste juristische Staatsexamen. Wie jeden Tag heißt es nun lernen, lernen, lernen.
Einmal in der Woche testet Sarah ihr Wissen anhand von Übungsklausuren. Dabei tippt sie alles mit dem Laptop, möglichst wenig schreibt sie von Hand. Das macht sie nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Angst. Sarah muss sich ihre Kraft in den Händen gut einteilen und die Finger schonen. Schon einmal haben ihre Muskeln in den Händen während einer Prüfung versagt. Die Klausuren werden in den Rechtswissenschaften nach wie vor nur handgeschrieben abgelegt. Diese Tatsache stellt Sarah vor eine große Hürde. Die Sorge, mitten in der Klausur des ersten Staatsexamens plötzlich ihre Finger nicht mehr bewegen zu können, ist für Sarah allgegenwärtig. Während ihre Kommilitonen sich allein auf den Stoff konzentrieren können, hat Sarah einen täglichen Begleiter, dem sie zusätzliche Aufmerksamkeit schenken muss: Ihre chronische Erkrankung.
Sarah leidet an Myasthenia gravis (MG). Das ist eine Autoimmunerkrankung, die unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Laut dem deutschen Ärzteblatt (vgl. Schneider-Gold, Christiane; Toyka, Klaus: Myasthenia gravis: Pathogenese und Immuntherapie, in: Heft 7/2007) sind von einer Million Einwohner zwischen 25 und 100 Personen betroffen. Georg-Peter Huss, der als Oberarzt für Neurologie im Katharinenhospital in Stuttgart tätig ist, erklärt die Symptome wie in folgender Infografik dargestellt.
Im Alter von 18 Jahren bekam Sarah die Diagnose für MG. Angefangen hat alles damit, dass Sarah kurz vor ihrem Abitur Bilder doppelt gesehen hat. Daraufhin begann für sie eine lange Phase der Ungewissheit, da ihr viele Ärzte keine Antwort auf ihre Symptome geben konnten. Die erste Diagnose lautete dann: Ein Hirntumor drückt auf den Sehnerv, daher das Sehen von Doppelbildern. Man kann sich kaum vorstellen, was es für einen jungen Menschen, der gerade die Schule beendet hat, bedeutet, eine solche Diagnose zu erhalten. Sarah erzählt, dass sie in diesen Wochen, aus Angst womöglich schon bald zu sterben, völlig neben sich stand und tagelang weinte.
Ein Hirntumor erklärte allerdings nicht die Schmerzen in ihren Händen. Als dann herausgefunden werden konnte, dass Sarah an der seltenen Erkrankung MG leidet und sich kein Tumor in ihrem Gehirn befindet, war die Erleichterung riesig. Dennoch bedeutete die Krankheit eine große Umstellung für Sarah.
Regelmäßige Kontrollbesuche beim Arzt, die tägliche Einnahme von Medikamenten und die ständige Angst, dass sich die Krankheit in ihrem Körper noch weiter ausbreiten könnte. Dazu kommt eine enorme psychische Belastung, die ein solch einschneidendes Erlebnis mit sich bringt.
Obwohl Sarah heute gelernt hat, mit ihrer Krankheit umzugehen, gibt es immer wieder schwierige und ungewohnte Situationen, die ihr Angst machen. Vor zwei Jahren wurde ihr operativ die Thymusdrüse entfernt, die ein wichtiger Bestandteil des Immunsystems ist. Das ist ein Organ, das nur in der Kindheit und Jugendzeit aktiv ist, erklärt Georg-Peter Huss. Diese Zeit beschreibt Sarah rückblickend als die größte Herausforderung ihres Lebens. Sie lag mehrere Tage auf der Intensivstation, in denen sie selbstverständlich nichts für ihr Studium tun konnte. Auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hat es lange gedauert, bis Sarah wieder auf die Beine kam. Letztlich musste sie deswegen eine Verlängerung ihrer Hausarbeiten beantragen.
Wenn man Sarahs Geschichte hört, stellt man sich automatisch die Frage, wie von Seiten der Universitäten und Hochschulen hinsichtlich Studierenden mit chronischer Erkrankung umgegangen wird. Sarah sieht hier, eben wegen ihrer ganz persönlichen Geschichte, Verbesserungsbedarf. Nach ihrer OP bekam sie zwar eine Schreibzeitverlängerung ihrer Hausarbeiten, allerdings erst nachdem sie einen ausführlichen Bericht über MG sowie eine Bestätigung ihres betreuenden Arztes eingereicht hatte. Jede krankheitsbedingte Herausforderung ist mit viel Aufwand verbunden, damit auf Sarah von Seiten der Universität Rücksicht genommen werden kann. Die Zuständigkeiten seien aber an ihrer Uni auch nicht klar genug geregelt, meint Sarah. Sie wüsste nicht, an wen sie sich konkret mit derartigen Problemen wenden könnte.
Wie Studierende mit chronischer Erkrankung behandelt werden, ist unterschiedlich. Ein individueller Nachteilsausgleich soll den Betroffenen die Chance geben, innerhalb ihrer Möglichkeiten den gleichen akademischen Grad zu erreichen. Herr Prof. Dr. Hinkelmann ist an der Hochschule der Medien (HdM) Stuttgart als Beauftragter für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung tätig. Er sagt, es ist vor allem von Vorteil, wenn Prüfungen in jedem Semester stattfinden. „Damit sind wir vollkommen flexibel, was individuelle Studienpläne anbelangt“, so Hinkelmann. Die betroffenen Studenten haben somit die Möglichkeit, Klausuren zu schieben, ohne dass wesentliche Studienzeit verloren geht.
Gegen 20 Uhr macht sich Sarah auf den Weg nach Hause. Wenn sie die Bibliothek verlässt, ist es draußen bereits dunkel. Morgen geht alles wieder von vorne los. Um das massive Lernpensum zu schaffen, hält sie sich streng an diesen durchgetakteten Tagesablauf. Auch weiterhin versucht sie, in ihrer Vorbereitung so wenig wie möglich ihre Hände zu belasten und hofft, dass sich die Krankheit in den nächsten Monaten nicht weiter verschlimmert. Es steht außer Frage, dass die Zeit vor dem Staatsexamen wohl für jeden Studenten belastend ist. Doch Sarah beweist, dass sich diese stressige Zeit auch mit Handicap durchstehen lässt.
* Name wurde geändert