„And it’s breaking my heart you’re leaving…“
Erinnerungen zwischen Steinen
Die Synagoge steht in Flammen. Überall ist Rauch und Feuer. Julius Kurt Weinstein sah es noch immer vor sich, obwohl der Brand schon lange erloschen war. Viele Jahre nachdem er aus Deutschland geflohen ist, stand er zum ersten Mal wieder da: In seiner alten Heimatstadt Stuttgart. Alles hatte sich verändert und sah nicht mehr so aus wie damals im Jahr 1939. Das Haus, in dem er aufgewachsen ist, wurde im Krieg zerstört. Er hatte der Stadt den Rücken gekehrt und ist vor den Nationalsozialisten zunächst nach England geflohen.
Heute sitzt sein Sohn Eric im eigenen Wohnzimmer in Sydney. Die gemeinsame Reise mit seinem Vater nach Deutschland ist schon viele Jahre her. Lange wollte Julius Kurt nicht zurück in das Land reisen, das ihn zur Flucht zwang. Und nicht nur ihn: Auch die acht anderen Geschwister haben ihre Heimat nach und nach verlassen.
Um einen Tisch versammelt
Die Weinsteins lebten in Stuttgart in bescheidenen Verhältnissen, haben es aber immer geschafft sich über Wasser zu halten. Als jüdische Familie haben sich die Eltern von Julius Kurt, Nesia und Israel, mit ihm und seinen Geschwistern jeden Freitagabend für das gemeinsame Abendessen am Sabbat versammelt, auch als einige Kinder bereits ausgezogen waren. Eric weiß noch wie sein Vater als jüngstes Kind die Tradition erlebt hat: „They would be a group sitting around the table“. Er erinnert sich noch an die genauen Worte seines Vaters: „Quite often we never had enough food to go around. But it would be dished out to us children first and my father Israel would just eat bread and gravy.“
Bis in das Jahr 1939 konnten die Weinsteins den Feiertag jeden Freitag gemeinsam verbringen, wodurch die Familienstruktur immer gleich geblieben ist. Zu diesem Zeitpunkt haben somit alle Familienmitglieder gegenseitige Beziehungen gepflegt und sind eng miteinander vernetzt gewesen.
Einige Straßen weiter
Zur gleichen Zeit saß vielleicht auch Familie Uhlman gemeinsam am Tisch, um Sabbat zu feiern. Vater Ludwig und seine Frau Johanna hatten zwei Kinder: Erna und Fred sind in einem wohlhabenderen Elternhaus aufgewachsen. Doch auch das schützte die jüdische Familie nicht vor der politischen Lage in Deutschland, die sich immer mehr zugespitzt hat. Die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, jüdische Bürger*innen auszugrenzen, wodurch Fred nach und nach sein Ansehen als Rechtsanwalt verloren hat. Als dann durchsickerte, dass er bereits auf einer Gestapo-Liste stand, ist er aus dem Land geflohen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der restliche Teil der Familie Uhlman weiterhin in Stuttgart. Auch die Schrecken der Nürnberger Gesetze, die 1935 erlassen wurden, erfuhr die Familie am eigenen Leib. So musste sich Erna 1939 von ihrem nicht-jüdischen Ehemann scheiden lassen, um mögliche Nachteile zu vermeiden.
Alle Familienmitglieder waren vor der Zeit des Nationalsozialismus eng miteinander vernetzt und lebten bis zur Flucht des Sohns Fred zusammen in der Hölderlinstraße. Im Jahr 1942 zerbrachen die Familienstrukturen der Uhlmans endgültig, als sich die Anzahl der Deportationen, die von den Nationalsozialisten als „Endlösung der Judenfrage“ betitelt wurden, ihren Höhepunkt erreicht haben. Freds Schwester Erna konnte das Land nicht mehr rechtzeitig verlassen. Nach mehreren gescheiterten Anträgen auf Emigration wurde sie nach Polen deportiert und umgebracht.
Auch Freds Eltern und sein Onkel sind in Deutschland geblieben und mussten sich am 22. August 1942 auf dem Killesberg versammeln. Von dort aus wurden sie in das Ghetto nach Theresienstadt deportiert und sind 1943 unter den grausamen Umständen gestorben. Fred ist der einzige der Familie Uhlman, der durch seine Flucht in das Ausland dem NS-Regime entkam und überleben konnte.
Gleicher Ort, ein Tag später
Auch Erics Großeltern Nesia und Israel Weinstein wurden nach Theresienstadt gebracht. Nach vier Wochen wurden sie in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet. Die Kinder der beiden überlebten, wenn auch überall auf dem Globus verstreut.
Die ursprüngliche Familienstruktur zerbrach im Jahr 1939 als vier der neun Kinder nach England geflohen sind, darunter auch Erics Vater. Durch die Flucht löste sich auch die enge Verbindung zu der übrigen Familie in Stuttgart, weil der persönliche Kontakt durch die Distanz nicht mehr möglich gewesen ist. Auch die restlichen fünf Kinder haben später Deutschland verlassen. Dadurch wird endgültig deutlich, wie die Flucht vor dem NS-Regime die Familienstruktur der Weinsteins zerstört hat. Obwohl manche Kinder zum Teil im gleichen Land gelebt haben, ist der Kontakt weitgehend abgebrochen und es gab keine persönlichen Beziehungen mehr zwischen den Personen.
Familie oder Fremde?
Die Familien Weinstein und Uhlman zeigen, wie nahestehende Menschen durch die Judenverfolgung voneinander getrennt worden sind. Damit stehen sie stellvertretend für viele andere jüdische Familien, auch außerhalb von Stuttgart. Trotzdem hat jede jüdische Familie auf ihre eigene Art Verfolgung, Flucht oder Mord während des Dritten Reichs erlebt.
Die Auswirkungen des Nationalsozialismus lassen sich auf zwei unterschiedliche Weisen in beiden Familienschicksalen erkennen. Zwar waren bis mindestens 1939 beide Familienstrukturen größtenteils intakt, dennoch sind bei Familie Uhlman die Beziehungen durch die Deportationen in verschiedene Konzentrationslager Anfang der 1940er Jahre auseinander gebrochen. Bis auf Fred ist die gesamte Familie ausgelöscht worden. Die wohlhabendere Familie Uhlman hatte somit keinen Vorteil durch ihren Besitz oder ehemaligen Status – Die Familienkonstellation ist dennoch zerstört worden.
Bei den Weinsteins waren nach dem zweiten Weltkrieg ebenfalls keine familiären Strukturen mehr vorhanden. Dadurch dass sie überall auf dem Globus verteilt gewesen sind, war es nahezu unmöglich, gemeinsamen Gewohnheiten nachzugehen oder in Kontakt zu bleiben. Die Judenverfolgung und die damit verbundene Flucht war der Grund, warum die Geschwisterrunde nie wieder zu neunt um einen Tisch versammelt sein konnte. Julius Kurt hat nur noch wenige Male seine Brüder und Schwestern im Ausland besucht. Sein Sohn Eric erinnert sich an seine Erzählungen nach den Besuchen: Die Geschwister waren füreinander fast wie Fremde, die alle keinen Bezug mehr zu ihrer alten Heimat Stuttgart hatten.
In Erics Wohnzimmer spielt im Hintergrund Cat Stevens Lied „Wild World“, während er in Gedanken mit seinem Vater durch die Straßen von Stuttgart läuft. „And it’s breaking my heart you’re leaving…“
Die beiden Familien wurden im Rahmen einer Netzwerkanalyse betrachtet und ihre Strukturen miteinander verglichen. Der Fokus lag hierbei auf den Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern und ihren Verbindungen zu Orten. Dabei wurden Teilnertzwerke in verschiedenen Zeitabschnitten erstellt. Diese beziehen sich auf die Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. So erkennt man einen Verlauf in den jeweiligen Familienstrukturen, die sich anhand des historischen Kontextes erklären lassen.
Als Datenquelle diente die Stuttgarter Stolperstein-Website und ein Interview mit Eric Winton, einem Nachkommen der Familie Weinstein.
Alle erhobenen Daten findet man hier.