Ein Leben als Pfadfinderin
Was genau heißt es denn eigentlich, Pfadfinder*in zu sein? Dazu nehme ich euch mit in meine Pfadfinderinnengruppe, die ich seit 2017 leite. Damals waren die Mädels gerade mal zehn Jahre alt. Über die letzten viereinhalb Jahre konnte ich zuschauen, wie sich aus einer Gruppe Kinder, die sich kaum kannten, eine feste Freundesgruppe von Teenagern entwickelt hat, in denen das Pfadfindertum schon fest verankert ist. Die Gruppenstunden finden einmal in der Woche statt und dauern anderthalb Stunden. Das Erste, was auffällt, sind die grauen Hemden, die von Außenstehenden gerne als „Uniformen“ bezeichnet werden. Bei uns nennt man sie „Tracht“ oder „Kluft“. Eine vollständige Tracht besteht aus einem grauen Hemd und einem blauen Halstuch. Diese Tracht wird in jeder Gruppenstunde, auf jedem Lager und auf jeder Fahrt getragen. Der Sinn dahinter ist zum einen das Zusammengehörigkeitsgefühl. Zum anderen soll damit gewährleistet werden, dass soziale oder finanzielle Unterschiede nicht durch die Kleidung ausgedrückt werden können. Menschen, die nichts mit den Pfadfindern zu zun haben, kommt das vielleicht etwas seltsam vor.
Für die 14-jährige Teresa und die gleichaltrige Lia aus meiner Gruppe ist das längst ganz normal geworden. „Meine Freunde in der Schule finden es meistens ein bisschen komisch, dass ich bei den Pfadfindern bin. Dabei erfährt man da eine richtig gute Gemeinschaft. Man macht da allgemein voll die coolen Sachen und kann über alles reden“, erzählt Teresa. „Vor allem die Gemeinschaft auf Lagern finde ich richtig toll.“ Durch dieses Zusammengehörigkeitsgefühl formen sich auch feste Freundschaften. „Teresa und ich kannten uns zwar schon vor den Pfadfindern, Freundinnen waren wir aber noch keine. Jetzt sind wir eigentlich unzertrennlich. Teresa ist wirklich wichtig für mich“, sagt Lia.
Zelte aus Stoff
Die Zelte, die wir auf den Lagern aufstellen und in denen wir schlafen, sind nicht etwa Campingzelte, wie man sie auf jedem Campingplatz sieht. Die sogenannten Schwarzzelte sind, wie der Name schon sagt, schwarz und bestehen aus Baumwollstoff. Damit sie regendicht bleiben, werden sie außen imprägniert. Mit Schlaufen und Knöpfen können sie zu unterschiedlichen Zelten zusammengeknüpft werden. Aufgestellt werden sie dann mit langen Holzstangen als Mittelmast und kleineren Holzstangen an den Seiten. Häringe werden auch aus Holz geschlagen. Genau das lernen die Kinder auch in den Gruppenstunden. Die ersten Pfadfinder-Jahre sind voll mit praktischem Lernen, wie man mit Säge und Beil umgeht, was für Zeltarten es gibt, wie man diese aufstellt, wie man ein Feuer macht.
Pfadfinder*in heißt nicht gleich Pfadfinder*in. In Deutschland gibt es über 140 Pfadfinderverbände, weltweit sogar noch mehr. Auch wenn sich diese alle unterschiedlich weiterentwickelt haben, Regeln etwa mehr oder weniger streng nehmen und verschiedene Religionszugehörigkeiten haben, alle gehen zurück auf den Erfinder der Pfadfinder, Robert Stephenson Smith Baden-Powell, Lord of Gillwell. Ein Name, den ich inzwischen in tausenden von Einheiten „Pfadfindergeschichte“ gehört und an hunderten Quizzabenden rausgebrüllt habe. Baden-Powell, oder kurz BP, war ein englischer Offizier, der am 22. Februar 1857 in Paddington geboren wurde. Dieser Tag wird heute noch als sogenannter „Thinking Day“ von Pfadfinder*innen auf der ganzen Welt gefeiert. BP startete 1905 mit der ersten Pfadfindergruppe – natürlich erstmal nur Jungs – und schon 1907 fand das erste richtige Pfadfinderlager auf Brownsea Island statt. Sein damals geschriebenes Buch „Scouting for Boys“ bietet heute die Grundlage für unsere Pfadfinderarbeit. Seine Frau Olave und seine Schwester Agnes gründeten dann im Jahr 1916 die Mädchen-Pfadfinder.
Meine Pfadfinder-Kindheit
In die Pfadfinderei wurde ich sozusagen „reingeboren“, meine Eltern waren beide Pfadfinder*innen und bleibt man lange genug dabei, dann wird das Pfadfinder-Sein auch zu einer Lebenseinstellung, die automatisch an die Kinder weitergegeben wird. Auf meinem ersten großen Lager war ich mit knapp drei Jahren, meine Schwester lernte laufen bei den Pfadfindern und ich konnte einen Schlafsack zusammenrollen, bevor ich überhaupt richtig sprechen konnte (keine ganz so leichte Sache übrigens). An mein erstes Lager kann ich mich für mein junges Alter sogar noch erstaunlich gut erinnern. Wir – das heißt meine Eltern, meine ältere Schwester (damals fünf), meine kleine Schwester (damals knapp fünf Monate) und ich – waren damals auf dem „Familienteillager“. Das ist der Lagerteil, auf dem, wie der Name schon sagt, die Familien sich aufhalten, meistens ehemalige Pfadfinder*innen, die mit ihren Kindern kommen. So ein Unterlager gibt es nur auf richtig großen Lagern, wie dem Bundeslager, das nur einmal alle vier Jahre stattfindet. Auch wenn der Familienteil vom „normalen“ Teil des Lagers etwas abgegrenzt ist und auch eigenes, auf Kleinkinder und Familien abgestimmtes Programm hat, sind die Bedingungen die gleichen. Auch wir schliefen in den Schwarzzelten, aßen gemeinsam im Sitzkreis und gekocht wurde auf einem selbstgebauten Kochtisch mit offenem Feuer.
Auch ich habe als Kind diese Sachen in Gruppenstunden gelernt. Als ich neun Jahre alt war und meine Schwester elf, wollten wir dann natürlich auch wie unsere Eltern zu den „richtigen“ Pfadfindern, also in eine Jugendgruppe. Das Problem: In unserem Dorf gab es zu dem Zeitpunkt keine Pfadfinder*innengruppen. Nach monatelangem Betteln erbarmte sich meine Mutter schließlich, eine Pfadfinderinnengruppe für uns aufzumachen. Das ist für unsere Pfadfinderarbeit eigentlich ziemlich untypisch. Das Prinzip ist hier „Jugend führt Jugend“. Das heißt, ein junger Mensch kommt mit 11 oder 12 Jahren in eine Pfadfinder*innengruppe, lernt da alles Mögliche über Zeltaufbau, Knoten, Feuermachen und Pflanzenarten und wird dann mit 15 oder 16 Jahren Leiter*in einer eigenen Jugendgruppe. Da es in unserem Dorf aber wie gesagt noch keine Pfadfinder*innen gab, übernahm meine Mutter also mit knapp 40 diese Aufgabe. Im Jahr 2018 startete mein Vater dann mit einer Jungsgruppe für meinen Bruder.
Um vieles davon zu verstehen, bedarf es eines kleinen Ausflugs in die Struktur der Pfadfinderarbeit. Der Bund, in dem wir Mitglied sind, ist die CPD, die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands. Diese ist gegliedert in verschiedene Landesmarken. Wir zum Beispiel sind Teil der Landesmark Schwaben, welche die Gruppierungen des süddeutschen Teils zusammenfasst, unter anderem auch Stuttgart, Waiblingen, Beilstein, Metzingen und Tübingen. Diese Landesmarken sind wiederum gegliedert in verschiedene Gaue. Unser Gau ist der Gau Ermstal, der die Gruppierungen in Metzingen, Riederich, Pfullingen, Dettingen und Bad Urach zusammenfasst. In diesen Gauen sind die sogenannten Stämme, die meistens geschlechtergetrennt und ortsspezifisch sind. Und in den Stämmen gibt es dann verschiedene Sippen. Das sind die Jugendgruppen, um die es eigentlich geht. Um mal ein Beispiel zu geben: Mit zehn Jahren kam ich in die Sippe Turmfalke des Stammes Susanna von Zillenhart aus Dettingen, des Gaues Ermstal, der Landesmark Schwaben, der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands.
Der Pfadfinder-Alltag
Neben den wöchentlichen Gruppenstunden besteht das eigentliche Pfadfinderleben aus Lagern und Fahrten. Lager gehen ganz von der Größe abhängig zwischen drei und zwölf Tage lang. Während dieser Zeit schlafen alle in den Schwarzzelten auf Isomatten und in Schlafsäcken. Elektrizität gibt es in dieser Zeit nicht, das heißt auch kein Handy, keine Taschenlampe, kein Herd und keine Mikrowelle. Licht wird mit Fackeln und Petroleumlampen generiert. Gekocht wird auf einem selbstgebauten Kochtisch auf offenem Feuer. „Ich finde das tatsächlich gut, dass es auf den Lagern keine Elektrizität gibt. Das ist mal ganz was anderes, man hat keine Ablenkungen. Ich hatte auf einem Lager jetzt noch nie das Gefühl, ans Handy zu müssen. Man hat dann auch nicht ständig das Gefühl, dass man über alles informiert sein muss“, äußert Teresa aus meiner Jugendgruppe sich dazu.
Alles auf einem solchen Lager wird in den ersten Tagen selbst aufgebaut. Auf großen, längeren Lagern sieht man dann auch gerne mal selbstgemachte Holzbänke, Regale oder Hängematten. Die Gemeinschaft, die man dort erlebt, ist eigentlich unbeschreiblich. Ohne die Ablenkung von elektronischen Geräten oder anderen, in der heutigen Zeit alltäglichen Dingen, lernt man sich ganz neu kennen und vor allem lernt man, diese Dinge auch zu schätzen. Nach zehn Nächten auf-dem-Boden-schlafen, fühlt sich ein einfaches Bett dreimal so weich an, als es eigentlich ist. Das findet Teresa auch: „Ich schätze alles ganz anders. Dann zu essen, wann ich will und was ich will. Warmes und kaltes Wasser. Die ganze Außenwelt über das Handy danach wieder mitzubekommen. Man merkt danach erst, was für Privilegien das eigentlich sind.“
Fahrten dagegen sind mehrtägige Wanderungen und finden meistens in den kleinen Gruppen statt. Je nach Länge kann diese in Deutschland, oder auch im Ausland stattfinden. In dieser Zeit läuft man eine bestimmte Strecke und übernachtet entweder in Scheunen gastfreundlicher Menschen auf dem Weg oder im mitgebrachten Zelt. Erst 2021 etwa war ich mit meiner Gruppe acht Tage lang in der sächsischen Schweiz. „Die Fahrt war schon richtig anstrengend. Aber es hat auch Spaß gemacht, zusammen zu laufen, abends zu singen und die ganzen Orte zu sehen“, erinnert sich Lia. Das Motto ist dabei ganz klassisch „Der Weg ist das Ziel“. Es geht nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern darum, die Gemeinschaft der Gruppe zu stärken, an körperliche Grenzen zu kommen und sich der Natur bewusst zu werden. Auch auf Fahrten ist Elektrizität tabu. Gekocht wird auf offenem Feuer.
Kritik an der Pfadfinderei
Die Pfadfinderarbeit muss aber auch kritisch betrachtet werden. Immerhin stellt sich auch direkt die Frage, ob diese Art von Jugendarbeit oder allgemein diese Art zu leben überhaupt noch zeitgemäß ist. Tatsächlich wird die Mitgliederzahl der Pfadfinder*innen immer kleiner und die Gruppen haben vor allem Probleme, Leiter*innen für Jugendgruppen zu finden. Viele Teenager scheinen es für unmöglich zu halten, mehrere Tage ohne ihr Smartphone zu verbringen. Und nicht nur die Lebensweise, auch die Begriffe und Regeln scheinen sich seit der Einführung nicht mehr geändert zu haben. Schon oft wurde kritisiert, dass bei uns die Gruppenleiter*innen immer noch Führer*innen genannt werden und auch die anderen Begriffe stark an die Zeit im Dritten Reich erinnern.
Besonders über diese Begrifflichkeiten wurde auch schon oft diskutiert. Jedoch ist es nicht so, dass die Pfadfinder*innen die Worte „Gau“ und „Stammesführer*in“ aus der Nazi-Zeit haben. Tatsächlich „stahl“ Hitler das Prinzip der Pfadfinderarbeit für die Hitlerjugend, um junge Menschen für seine Zwecke zu begeistern. Die Begriffe und das Prinzip an sich sind schließlich nichts Schlechtes. Es wurde mehrfach dagegen entschieden, diese Ausdrücke, die an die schreckliche Zeit erinnern, zu ändern, da es für wichtiger gehalten wurde, stattdessen über den Ursprung dieser Dinge aufzuklären. Und zu sagen, Pfadfinder*innen wären in der Zeit stehen geblieben, wäre falsch. Ständig werden Regeln und Prinzipien erneuert. Seit gut einem Jahr etwa wird auch bei den Pfadfinder*innen gegendert und auf Lagern wird vermehrt auf Nachhaltigkeit geachtet.
Allgemein kann man sagen, dass die Pfadfinderei grundsätzlich nicht für jeden das Richtige ist. Für Kinder ist es definitiv ein guter Ausgleich, vor allem in der heutigen Zeit, in der sie immer früher elektronische Geräte bekommen und mehr Zeit im Haus verbringen als draußen. Ob man nach den Einstellungen des Pfadfindertums leben möchte, muss dann aber jede*r selbst entscheiden. Lia und Teresa sind jedenfalls noch fest überzeugt. Sie helfen inzwischen auch schon als Leiterinnen bei den Kindergruppen zwischen sechs und zwölf Jahren, und freuen sich besonders auf das kommende Bundeslager im Sommer 2022. Mir sind die beiden inzwischen auch unglaublich ans Herz gewachsen. Die Pfadfinderei und die Leitung meiner Jugendgruppe ist für mich nicht nur eine Verpflichtung oder ein Hobby, sondern eine Lebenseinstellung, die ich an meine Gruppe weitergeben möchte und nach der ich auch in meinem Alltag lebe.