Nobody is perfect
Ich benutze festes Shampoo, aber eine Bürste aus Plastik. Ich fahre in Stuttgart Bahn, in der Heimat ist das Auto die erste Wahl. Ich habe drei Jahre lang nur Fair-Fashion und Secondhand gekauft. Vor einem Monat konnte ich dem Fast-Fashion-Pullover nicht widerstehen. Zuhause vegan, auf einer Ferienfreizeit dann doch Sahne, Joghurt und Käse – ich wollte keine Umstände machen. Ständig habe ich das Gefühl nicht genug zu tun. Ja, ich gebe es zu, auch ich bin nicht perfekt.
Sei Öko – jetzt und sofort
Begibt man sich in die Öko-Bubble in sozialen Medien, wird einem das Bild des perfekten Ökos präsentiert: Möchte man nachhaltig leben, muss der Müll eines Jahres in ein Marmeladenglas passen, darf das Essen auf dem Teller nur vegan und Bio sein. Und wehe, ich reise mit dem Flugzeug. Dann ist es sowieso aus mit der Nachhaltigkeit. Es gibt viele unterschiedliche Bereiche, in denen ich nachhaltigere Entscheidungen treffen kann. Supermarkt, Badezimmer, Kleiderschrank, Garage, Geldkonto, um nur einige zu nennen. Und am besten alles jetzt sofort. Sonst erwarten mich Anfeindungen und Kommentare anderer. Flugscham scheint zum nachhaltigen Leben dazuzugehören, wie der Hustenscham in der Coronapandemie und der Heizscham in der Energiekrise. Schon bevor ich mich für etwas einsetze und zugebe, dass ich nachhaltiger leben möchte, sehe ich die anderen Leute mit dem nackten Finger auf mich zeigen. Das können Nachhaltigkeitsfeinde sein, oder die Öko-Bubble selbst. Sie projizieren ihre eigenen Fehler und Schwächen auf die, die es wenigstens versuchen.
Berühmte Beispiele sind Plastik-Greta und Langstrecken-Luisa. Greta Thunberg aß auf einer langen Zugreise ein Toast, das zuvor in Plastik verpackt war – geht gar nicht, meinten ihre Kritiker*innen. Den Fakt, dass die Klima-Aktivistin statt eines Flugzeuges den Zug gewählt hatte, ließen sie unbeachtet. Luisa Neubauer wurde für Bilder aus Tansania und Namibia angefeindet. Schließlich war sie dort nicht mit dem Fahrrad hingefahren, sondern geflogen. Dabei entspannte sie dort nicht am Strand, sondern unterstützte ein Hilfsprojekt.
Nachhaltiger heißt nicht perfekt
Aber seien wir mal ehrlich: Niemand ist perfekt. Ich nicht, du nicht und auch die Vorzeige-Ökos auf Instagram sind es nicht. Schon allein, weil die Rahmenbedingungen unserer Welt in gewissen Bereichen ein nachhaltiges Leben einfach schwer machen. Wir haben alle Leichen im Keller. Oder wohl eher eine Tüte Chips im Vorratsschrank, einen Einweg-Kaffeebecher auf dem Weg zur Arbeit oder ein Auto in der Garage. Und wir haben unterschiedliche Gründe dafür. Seit ich studiere, reicht das Geld für den Unverpacktladen einfach nicht mehr. Auf dem Land kann man sich glücklich schätzen, wenn überhaupt ein Bus fährt.
Und während ich meinen veganen, in Plastik verpackten Schokoriegel esse und mich in meinen gemütlichen Fast-Fashion-Lieblingspulli kuschle, fange ich an zu träumen: von einer Welt, in der Menschen, die sich für ein nachhaltigeres Leben entscheiden, sich unterstützen und zusammen laut werden. Von einer Welt, in der wir uns gegenseitig für die kleinen unperfekten Schritte in die richtige Richtung feiern.
Eine weitere Episode der Kolumne „Nachhaltig ehrlich“ mit ehrlichen Einblicken in den Weg zu einem nachhaltigeren Leben findest du hier.