Zum zweiten Mal Geburtstag
Die Mittagssonne in Savannah ist stark und brennt auf den Asphalt herunter. Auf der dreispurigen Straße sieht man die entgegenkommenden Fahrzeuge in der aufsteigenden Hitze verschwimmen – die Sicht ist trotzdem klar. Er sitzt auf seinem Rennrad und ist bereits seit über drei Stunden auf der Eisenhower Drive unterwegs, seine Unterkunft nur noch zwei Kilometer entfernt. Mit 40 Kilometern pro Stunde tritt er gleichmäßig in die Pedale, im Gesicht spürt er den kühlenden Fahrtwind. Seine Gedanken kreisen um die bevorstehenden Wettkämpfe in Miami und im mexikanischen Los Cabos. Doch was in den nächsten Sekunden passiert, entscheidet, dass er an diesen nicht antreten wird.
Dominik Sowieja ist Profi-Triathlet, 28 Jahre alt und startet in der ersten Bundesliga. Jede freie Minute nutzt er, um sich fit zu halten. Die sportlichen Höchstleistungen sieht man seinem Körper deutlich an. Nach seinem Bachelor-Abschluss 2017 möchte er sich ganz dem Sport widmen und reist für zwei Monate in die USA. Dort möchte er trainieren und an einigen Wettkämpfen teilnehmen, um sich für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren. Doch bereits nach einigen Tagen im Ausland werden seine Pläne durchkreuzt. An seinen Unfall erinnert er sich noch, als wäre es gestern gewesen.
Kann er je wieder Sport treiben?
„Ich kam mir vor wie im falschen Film“, beschreibt er seine Gefühle, als ein großer Pickup-Truck ihn von hinten mit etwa 70 Kilometern pro Stunde rammte. Durch den Aufprall wurde Dominik durch die Luft geschleudert, schlitterte auf dem Rücken und dem Gesäß über den Asphalt und blieb schließlich auf dem Seitenstreifen liegen. Sein Rad fand man „zerfleddert“ ein Stück weiter vorne auf der Straße, Einzelteile waren überall verstreut. Die ganze Situation erlebte er bei vollem Bewusstsein. Trotzdem erinnert er sich, dass er zunächst nicht wusste, wo oben und unten war, Adrenalin schoss durch seinen Körper und unfassbar starke Schmerzen setzten ein. Von der dreispurigen Straße hielten sofort alle Fahrzeuge an, um ihn herum bildete sich eine Menschentraube, die alle ihre Hilfe anboten. Nur der Fahrer des Pickup-Trucks hielt erst etwa 100 Meter weiter vorne vorsichtig auf dem Seitenstreifen an – getroffen hat er ihn nie. Bewegungsunfähig wurde Dominik ins naheliegende Krankenhaus gebracht. Seine ersten Gedanken waren zunächst zuversichtlich: „Ich dachte, das sind schon ein paar Blessuren und ich brauche auf jeden Fall ein neues Rad, aber dann werde ich meine Reise sicher fortsetzen können.“ Nachdem er sich allerdings im Krankenhaus nicht einmal selbst aufrichten oder stehen konnte, realisierte er, wie schlimm die Lage tatsächlich war und dass auch die Reise für ihn mit dem Unfall endete. Das war allerdings nebensächlich. Dominik befürchtete das Schlimmste: Da er sich kaum bewegen konnte, war eine Verletzung des Rückenmarks nicht ausgeschlossen. „In dem Moment wurde es schon sehr emotional und ich fragte mich, ob ich je wieder Sport treiben kann.“
Bereits vor seinem schlimmen Unfall hat Dominik im Training schlechte Erfahrungen mit Autofahrern gemacht. Fahrzeuge, die zu dicht überholen, Pöbeleien, Hupkonzerte oder auch von Scheibenwischanlagen nass gespritzt zu werden, sind für Rennradfahrer keine Seltenheit. Ein Mindestabstand von eineinhalb Metern sollte beim Überholen von Radfahrern gesetzmäßig eingehalten werden, wofür in der Regel die Straßenseite gewechselt werden muss – daran halten sich allerdings die Wenigsten und es kommt immer wieder zu gefährlichen Situationen. Dominik sieht das Problem darin, dass viele den Abstand nicht richtig einschätzen können: „Ich glaube, man weiß oft gar nicht, wie es sich anfühlt, auf dem Rad mit einem halben Meter Abstand bei 100 Kilometern pro Stunde überholt zu werden.“ Das hat für viele Radfahrer allerdings verheerende Folgen: Laut Statistischem Bundesamt kam es im Jahr 2019 in Deutschland zu über 50.000 Unfällen zwischen Kraftfahrzeugen und Radfahrern – davon endeten 259 tödlich. Unfallursache ist meist auf beiden Seiten eine zu hohe Geschwindigkeit und ein zu geringer Abstand.
Hartes Training zahlt sich aus
Dominik hatte in seinem Fall Glück im Unglück. Noch am Unfalltag bekommt er im Krankenhaus die erlösende Diagnose: Es sind zwar zwei Wirbel durchgebrochen, doch dank seiner Rumpfstabilität wurde seine Wirbelsäule beim Aufprall gut in Position gehalten und es wurde nichts vom Rückenmark oder den Nerven verletzt. Mit einem tiefsitzenden Schrecken wurde Dominik in ein Korsett gepackt, in den Rollstuhl gesetzt und aus dem Krankenhaus entlassen. Als er nach einiger Zeit wieder transportfähig war, flog er zurück nach Deutschland und begann mit dem aufwändigen Aufbautraining.
Dank ständigem Training mit Physiotherapeuten machte er seit dem Unfall stetig kleine Fortschritte. So kämpfte er sich von fast kompletter Bewegungsunfähigkeit über wieder selbstständig Socken anziehen können, zu ein paar Minuten auf dem Rad sitzen. Jeder kleine Schritt war ein Erfolgserlebnis. Bereits ein Jahr nach dem Unfall startete er wieder beim ersten Liga-Wettkampf – nicht auf höchstem Niveau, aber es war ein Anfang. Bis heute hat er noch mit seinen Verletzungen zu kämpfen und sein Körper macht manchmal noch nicht ganz das, was sein Kopf von ihm möchte. Auch mental wurde Dominik durch den Unfall auf die Probe gestellt: „Ich habe mir schon immer gesagt, es wird alles wieder gut, du bist auf dem richtigen Weg, doch ganz genau so wie vor dem Unfall wird es nie wieder werden.“ Er wusste aber, ein sehr gutes Niveau kann er trotz allem wieder erreichen – und das hat er durch harte Arbeit auch geschafft. Körperlich und mental. Unmittelbar nach dem Unfall war Dominik sehr vorsichtig unterwegs, ist vorerst nur drinnen auf dem Rollentrainer gefahren. Als er mit den ersten Trainingseinheiten wieder nach draußen ging, hatte er ebenfalls Schwierigkeiten, den Unfall aus dem Hinterkopf zu bekommen und war bei Überholmanövern noch sehr unsicher auf dem Rad. Seine Motivation, den Sport wieder wie zuvor betreiben zu können, war jedoch größer als die Bedenken: „Man muss seine Angst auch überwinden und den Unfall vergessen können. Ansonsten kann man nie wieder auf der Straße fahren.“ Geprägt hat der Vorfall ihn trotz allem.
Noch vom Krankenhausbett macht Dominik damals per Facebook auf die zahlreichen schlimmen Radunfälle aufmerksam und spricht dabei auch zwei professionelle Athleten an, die im selben Jahr durch Fahrzeuge tödlich verunglückten. Die Triathlon Bundesliga teilt solche Fälle regelmäßig und versucht, mit ihrer größeren Plattform Bewusstsein für das allgemeine Problem zu schaffen. Auch andere Organisationen möchten mehr Menschen darauf aufmerksam machen. So startete zum Beispiel der Triathlon-Reiseveranstalter „Hannes Hawaii Tours“ die Aktion „Mach den Bogen“, nachdem im Jahr 2017 auf Mallorca ein schlimmer Unfall passierte, bei dem einige Radfahrer ums Leben kamen. Mithilfe eines Videos wurde erklärt, wie man mit dem richtigen Abstand einen Radfahrer überholen sollte und somit Leben retten kann. Aktionen wie diese gibt es immer wieder. Allerdings reicht das nicht aus und die Verstöße gegen Radfahrer werden von der Bundesregierung immer stärker geahndet. Somit kann das Nichteinhalten des Mindestabstandes mit bis zu 100 Euro Bußgeld und einem Punkt in Flensburg bestraft werden. Ob stärkere Strafen und mehr Gesetze das Problem wirklich besser machen, sei dahingestellt. Dominik findet aber, dass dieser Ansatz in die richtige Richtung geht: „Es ist auf jeden Fall positiv, dass man etwas unternimmt, um Radfahrer zu schützen.“ Einen besseren Lösungsansatz sieht er aber darin, mehr Radwege auszubauen. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Frankreich oder Südtirol, hat er bereits die Erfahrung gemacht, dass viel mehr Radwege vorhanden und gut befahrbar sind und man nicht auf Schotterpisten oder Schlaglöcher trifft. Hier besteht in Deutschland großer Nachholbedarf.
Gegenseitiger Respekt ist das A und O
Trotzdem bringen diese Maßnahmen nichts, wenn Autofahrer und Radfahrer sich nicht gegenseitig Respekt und Aufmerksamkeit entgegenbringen. Diesen Standpunkt vertritt auch Dominik: „Schwarze Schafe gibt es auf beiden Seiten und es sind natürlich auch immer Radfahrer dabei, die über rote Ampeln fahren oder sich kreuz und quer ohne Sinn und Verstand durch Autoketten schlängeln.“ Allerdings hat ein Radfahrer keine Knautschzone und auch wenn er der Unfallverursacher war und es zum Zusammenstoß mit einem Fahrzeug kommt, hat man auf dem Rad schlechtere Chancen, nur mit ein paar blauen Flecken davonzukommen. Das Kraftfahrzeug ist und bleibt das Stärkere im Straßenverkehr und es hilft letztlich nur, an die Vernunft der Autofahrer zu appellieren. Für Dominik ist es schwer nachvollziehbar, warum viele gerade beim Überholen von Radfahrern nicht auf eine sichere Gelegenheit warten: „Was bringt es einem, wenn man ein paar Minuten früher ankommt, aber dafür ein Menschenleben riskiert?“ Unfälle wird es weiterhin geben, doch vielleicht können sie durch ein höheres Bewusstsein reduziert werden.
Das Schlimmste an dem Unfall war für Dominik, dass der Truck-Fahrer an der Unfallstelle nicht wie die anderen zu Hilfe geeilt ist, sich nie persönlich bei ihm entschuldigt hat, sondern sich sogar bei der Polizei herausreden wollte. Beim Durchlesen des Polizeiberichtes schockieren ihn die Angaben des Unfallverursachers: Er hätte auf dem Rad die Spur von rechts nach links gewechselt, somit sei es für den Truck-Fahrer unmöglich gewesen zu bremsen oder auszuweichen. Dominik ist sich sicher, dass er ganz rechts auf der Spur gefahren ist und hat dafür nur ein müdes Lächeln übrig. „Das zeigt für mich einen ziemlich schlechten Charakter, wenn man jemanden so schwer verletzt, es eindeutig die eigene Schuld war und sich dann nicht mal eingestehen kann, dass man einen Fehler gemacht hat.“ Selbst wenn es so gewesen wäre wie der Truck-Fahrer es angab, hätte er den Sicherheitsabstand trotzdem so einhalten müssen, dass er noch hätte abbremsen können. Dominik möchte ihn nicht verurteilen, aber für ihn ist klar, dass der Fahrer abgelenkt gewesen sein musste. „Ich vermute, dass er telefoniert hat oder am Handy war. Ansonsten fährt man auch nicht über 100 Meter weiter, sondern hält sofort an, wenn man einen solchen Schlag spürt.“
Noch am Leben
Dank seiner großen Motivation und der Liebe zum Triathlon konnte sich Dominik wieder nach oben kämpfen. Seit diesem Jahr – und damit ganze drei Jahre später – kann er endlich wieder mehrere Stunden ohne Schmerzen mit seinem Rennrad fahren. Es war ein harter und langer Weg, doch trotzdem wollte er nie anders behandelt werden oder dass andere denken, er wäre nach seinem Unfall nicht mehr so leistungsfähig. Er hat große Ziele und trainiert darauf hin, in den nächsten Jahren im Profi-Triathlon richtig Fuß zu fassen und in Richtung Weltspitze zu gelangen. Jeden Tag seit dem Unfall ist er glücklich und dankbar dafür, dass er den Sport noch ausüben kann – für selbstverständlich nimmt er es nicht mehr. „Ich habe gelernt, alles viel mehr zu schätzen zu wissen. Wenn man eine Zeit lang nichts machen konnte, merkt man erst einmal, wie großartig das eigentlich ist, sich bewegen zu können oder einfach laufen, Rad fahren oder schwimmen gehen zu können. Man muss sich darüber klar sein, dass das vielen Menschen verwehrt bleibt oder dass viele nach einem solchen Unfall keine zweite Chance bekommen.“
Den Unfall im Oktober 2017 sieht er als seinen zweiten Geburtstag. Um sich bewusst zu machen, was er für ein großes Glück hatte, geht er den Unfall heute immer wieder im Kopf durch: Bewegungslos liegt er auf dem Seitenstreifen der aufgeheizten Straße in der Innenstadt von Savannah. Nur langsam wird ihm bewusst, was sich in den letzten Sekunden abgespielt hat. Benebelt vom Adrenalin versucht er die Situation zu begreifen, durchfahren von Schmerzen kommt er langsam zu sich. Sein einziger Gedanke: Ich lebe noch.