Wir sind vom Wald abhängig. Ohne den Wald sind wir verloren, wir werden aussterben.
Wie Kultur und Lebensweise indigener Völker gefährdet sind
Bei Kopfschmerzen werfen wir uns eine Tablette ein, zusammen mit einem Schluck Wasser aus dem Hahn. Möchten wir etwas essen, steigen wir ins Auto und fahren zum nächsten Supermarkt. Für uns sind diese Dinge vor allem eines: Alltag. Doch inmitten dichter Urwälder gibt es noch heute indigene Völker, die ohne diese Annehmlichkeiten leben.
Um ihre Kultur und Lebensweise zu schützen, verzichten viele indigene Gruppen auf den Kontakt zur Außenwelt. Survival International ist nach eigener Aussage die weltweit einzige Organisation, die sich für die Rechte und den Schutz solcher Völker einsetzt. Indigene wie To’o vertrauen ihr. To'o gehört zum Volk der Awá, das in den dichten Wäldern Brasiliens seine Heimat hat, und teilt seine Ängste mit Survival International. Für ihn ist ein Leben ohne Bäume nicht vorstellbar: „Wir sind vom Wald abhängig. Ohne den Wald sind wir verloren, wir werden aussterben.“ Er versteht nicht, wie „die Weißen“ überhaupt in entwaldeten Gebieten überleben können.
Niklas Ennen, Pressesprecher und aktives Mitglied der Organisation, schildert die Gefahren, die bei einer Kontaktaufnahme von außen drohen können: Eingeschleppte Krankheiten wie Grippe oder Malaria können eine große Bedrohung sein, weil den Einheimischen die Immunität fehlt. Ebenso verheerend können die Folgen für die traditionelle Kultur der Völker sein, beispielsweise bei Kontaktversuchen durch christliche Missionen. Für einige ist die abgeschiedene Lebensweise der indigenen Völker Grund genug, ihnen die Botschaft Gottes nahe zu bringen – manchmal zu einem hohen Preis.
Ennen beschreibt den katastrophalen Ausgang einer Kontaktaufnahme zum Volk der Zo’é durch die New Tribes Mission im Jahr 1980: Nach dem Erstkontakt starben 45 Angehörige an fremden Krankheiten. Die traditionelle Lebensweise wurde durch ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Missionar*innen weitgehend zerstört. Gefahren würden vor allem dann entstehen, wenn Missionen die Lebensweise indigener Völker negativ betrachten, so Ennen. Viele Gruppen würden den Kontakt zur Außenwelt bewusst ablehnen. Diese Entscheidung müsse respektiert werden.
Auch in den Missionen findet mittlerweile ein Umdenken statt. David Jarsetz ist Direktor und Koordinator der Liebenzeller Mission International und war selbst fünf Jahre als Missionar in Papua-Neuguinea tätig. Auch er sieht Risiken in der Missionierung indigener Gruppen, sofern sich Missionar*innen nicht ausreichend auf die Kultur der Völker einlassen: „Die eigene kulturelle Sicht und Prägung darf der fremden Kultur nicht übergestülpt werden und Abhängigkeitsverhältnisse gilt es zu vermeiden.“ Auf die Kontaktaufnahme mit isolierten Völkern verzichtet die Liebenzeller Mission mittlerweile komplett – auch, weil viele indigene Gruppen heute einen besseren Zugang zum Evangelium haben.
Die eigene kulturelle Sicht und Prägung darf der fremden Kultur nicht übergestülpt werden und Abhängigkeitsverhältnisse gilt es zu vermeiden.
Heute gehe es vor allem um eine Partnerschaft auf Augenhöhe und Hilfe zur Selbsthilfe, so Jarsetz. Viele Missionen versuchen Einheimischen zu helfen. Die Liebenzeller Mission unterstützt sie beispielsweise beim Brunnenbau oder pflanzt neue Nutzpflanzen an, um die Versorgung mit Nahrung sicherzustellen. Freiwillige Kontakte zur Außenwelt können auch Positives bringen, ohne die Kultur oder die Menschen selbst zu gefährden.
Aktuelle Fälle wie der des Missionars John Allen Chau zeigen allerdings, dass sich noch nicht alle Missionen auf freiwillige Kontakte beschränken: Der Missionar der Organisation All Nations setzte 2018 mehrmals auf die Insel der Sentinelesen über, obwohl das indigene Volk Kontaktversuche der Außenwelt eindeutig ablehnte. Die Risiken für deren Kultur ignorierte er dabei vollkommen. Die Sentinelesen fühlten sich schließlich sogar so bedroht, dass sie Chau mit Pfeilen beschossen. Er starb und wurde bis heute nicht von der Insel geborgen.
Akzeptanz ist der Schüssel
Niklas Ennen betont, dass es trotz allem wichtig sei, die Existenz unkontaktierter Völker zu belegen. Erkundungsflüge über abgeschiedene Gebiete seien ein vertretbares Risiko und stellten auch keine nachhaltige Gefahr für die Kultur der Indigenen dar. In vielen Fällen bräuchte es Beweise, um den Lebensraum der indigenen Gruppen juristisch schützen zu können.
Auf dem Instagram-Kanal von Survival International Deutschland räumt Schauspielerin Katharina Wackernagel mit Mythen über unkontaktierte Völker auf:
Letztlich ist jeder Kontakt mit indigenen Völkern nicht nur eine Glaubens-, sondern vor allem eine Gewissensfrage. So viel Positives die westliche Kultur mit dem Fortschritt der „Außenwelt“ auch verbindet: Für Indigene stellt er in vielen Fällen eine Gefahr dar. Während wir auf die Annehmlichkeiten unseres Alltags kaum verzichten wollen, sind die Indigenen auf den Erhalt ihres Lebensraumes angewiesen, um auch in Zukunft zu überleben. Damit das gelingt, braucht es nicht zwingend Wasserhähne und Supermärkte, sondern Respekt und Verständnis für andere Kulturen und Lebensweisen.