Subkultur

Zwischen Konsum und Kennenlernen

Die Anonymität in Großstädten wächst und öffentlicher Raum wird immer seltener – der Österreichische Platz als Gegenteilsbeweis.
09. Dez. 2019

Stuttgart gilt als Spielwiese für Bauherren und Baggerfahrer. Regelmäßig stößt man im Kessel auf eine neue, mehr oder weniger ästhetische Kiesgrube – oft allerdings eher im Sinne der Konsumgesellschaft, als der Gemeinschaft. Öffentlicher Raum wird somit in Großstädten immer geringer und die Anonymität steigt. Wie kann dagegen vorgegangen werden? – Ein Meinungstext. 

Ein Ort in Stuttgart, der dem Konsumzwang noch nicht verfallen ist, ist der Österreichische Platz unter der Paulinenbrücke. Zwischen Altbauträumen und Flaniermeile im Süden und Einkaufspassagen und Imbissbuden im Stadtkern, befindet sich genau in der Mitte ein Platz, an dem Menschen aufeinandertreffen, die genauso unterschiedlich sind, wie die Stadtteile, die sie umgeben. Ein unbebauter, öffentlicher Platz, frei von jeglichem Konsumzwang. Eine Lücke sozusagen. In einer Stadt wie Stuttgart, die zuletzt zur teuersten Stadt Deutschlands erklärt wurde, ist das so selten wie gutes Hochdeutsch in Oberschwaben. 

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Quelle: Stadtmessungsamt Stuttgart. | Quelle: Brigitte Buck

Doch wem gehört die Stadt eigentlich? Der Industrie und ihren Mercedesfahrern, die sich über jeden freien Parkplatz wie über einen Sechser im Lotto freuen? Oder den jungen Familien, die sonntags durch den Westen spazieren? Oder vielleicht doch den Obdachlosen am Rotebühlplatz, die sich – schon lange bevor wir Studenten uns dazu entschlossen haben, für 15 Quadratmeter monatlich 450 Euro zu entbehren – dort getroffen haben? 


Mit dieser Frage hat sich der ehrenamtliche Verein Stadtlücken die letzten Jahre beschäftigt. Die Gruppe aus Architekten, Stadtplanern, Studenten und sonstigen Kreativen hat sich zur Aufgabe gemacht, in einer, wie Initiator Sebastian Klawiter sagt „komplett verkalkulierten Stadt wie Stuttgart“ Lücken aufzusuchen und durch diese mehr Bewusstsein für öffentlichen Raum und vor allem das Miteinander in einer Großstadt zu schaffen. Dabei kann es sich um Baulücken, Zeitlücken, soziale Lücken, rechtliche Lücken und Wissenslücken drehen. Wer zuletzt unter der Paulinenbrücke war, egal ob mit Tischtennisschläger in der Hand oder im Regenbogen T-Shirt am Christopher Street Day, weiß, dass der Österreichische Platz der Inbegriff für all diese Lücken in Kombination ist. Somit verwandelten die Stadtlücken ihn von Juli 2018 bis Oktober 2019 in Kooperation mit der Stadt Stuttgart von einem ehemaligen Parkplatz zu einem Experimentierfeld für jede Art von Veranstaltung. Egal ob Sommerkino, Chorprobe, Kaffeekranz, Diskussionsrunde, Flohmarkt, Boulderwand oder Tischtennisduell – hier war alles möglich und jeder willkommen.

Die Prototypen und Herzstücke des ÖP's: Der Souvenirstand und das Boulderblöckle.
Ein Stück Kletterwand mit Kiesbett – von den Stadtlücken auch das "Boulderblöckle" genannt.
Im Oktober 2016 wurden Passanten erstmals durch den Souvenirstand und Umfragetafeln auf den ÖP aufmerksam gemacht.

Doch so schön das auch klingen mag, so kompliziert war dessen Umsetzung. Mittags tummelten sich die Obdachlosen am Platz und abends gingen die Partys zu lang. So sahen die Kritiker die Veranstaltungsreihe: Den einen war es zu schmutzig, den anderen zu laut. Mütter wollten bei der Atmosphäre nicht mehr zum „Boulderblöckle“ mit ihren Kindern und Gastronomen im Umkreis blieb die Kundschaft aus. „Da gab es dann inhaltliche Konflikte“, sagt Ania Corcilius von den Stadtlücken. „Vielen fiel es schwer, damit umzugehen, einen Platz zu halten, an dem Kinder spielen und zwischenzeitlich zweimal am Tag die Polizei und der Krankenwagen kommen muss, weil jemand mit dem Messer bedroht wird.“ Mitunter die größte Kritik kam allerdings aus der nahegelegenen Franziskusstube, wo Obdachlosen seit Jahren Frühstück geboten wird. Hier wurde den Stadtlücken unterstellt, den Platz zu gentrifizieren und ihn den Obdachlosen wegzunehmen. 

„Da hat die Stadt lange versucht, uns noch was aufzudrücken – so als weitere Leistung, die wir umsonst erbringen.“ 

Ania Corcilius

Große Projekte in diesem Ausmaß brauchen am Ende vom Tag allerdings nicht nur kreative Köpfe, sondern auch Geld und Genehmigungen. Rechts- und Versicherungsfragen müssen geklärt, und jede noch so kleine Veränderung angemeldet werden. Schließlich wird Bürokratie in Deutschland großgeschrieben. Doch in Kooperation mit der Stadt Stuttgart liefen diese Abläufe überraschend reibungslos, allerdings „wurde die Zukunftsplanung des Platzes etwas verbummelt in den letzten Monaten“, so Ania Corcilius. „Da hat die Stadt lange versucht, uns noch was aufzudrücken – so als weitere Leistung, die wir umsonst erbringen."

Ehrenamt – zur Arbeit verdammt? 

Auch ehrenamtliche Energie kommt somit irgendwann an ihre Grenzen. Den Stadtlücken war nach dem zweiten Sommer klar, dass das Projekt in diesem Ausmaß so nicht mehr unentgeltlich von ihnen gestemmt werden könnte. Raiko Grieb, Bezirksvorsteher der inneren Stadtbezirke, erklärt sich die Haltung der Stadt anhand von Personalnot und Fachkräftemangel. Er sieht den Wandel am Österreichischen Platz als Bereicherung für die Subkultur Stuttgarts: „Früher trafen im Einzelhandel die verschiedensten Menschen aufeinander. Da stand der Reiche aus der Halbhöhe neben dem Sozialschwachen aus dem tiefsten Stuttgarter Kessel. Wenn diese Einrichtungen wegfallen, sind öffentliche Plätze umso wichtiger.“ 

Trotzdem gibt es in Stuttgart urbane Projekte, die es nicht so weit wie die Stadtlücken geschafft haben. Ania Corcilius erklärt sich das an der universitären Anbindung. Die Stadtlücken sind ursprünglich aus einem studentischen Projekt entstanden. „Das ganze gilt schon fast als Forschungsprojekt. Es ist mehr als nur eine Bürgerinitiative, vielleicht hat das mehr Türen und Herzen geöffnet.“

Wer sich mit den Stadtlücken auf Lückensuche begeben möchte, kann das bei der Veranstaltungsreihe „Einmal im Monat“ tun – der nächste Termin ist am 11. Dezember im Künstlerhaus Stuttgart. (Kommt nicht im Mercedes, es gibt eh keine Parkplätze.)