„Erst wenn du spürst, was es beutetet, wenn die Kälte in den Knochen sitzt, dann weißt du, was Platte machen ist.“
Rossignuolo. Die Nachtigall.
Luigi bietet mir ein Stück Decke an. „Wird scheißkalt, glaub mir.“ Ich lehne ab. Habe mich gut vorbereitet. Zwei Isomatten, Schlafsack, dicker Pullover, Jacke, Thermowäsche, Handschuhe, Mütze. Wird schon reichen. Plus zwei Grad zeigt das Thermometer an, der kalte Luftzug macht mir zu schaffen. Ich ziehe meinen Jackenkragen etwas höher und ziehe die Mütze über die Augen. Das gleißend helle Licht der Unterführung über mir lässt mich nicht schlafen. „Lass dich einfach fallen,“ nuschelt Luigi „ich mach‘ jetzt die Augen zu, bin echt ziemlich durch.“ Neben meinem Kopf liegen Kippenstummel und der Geruch von Urin und Alkohol, der sich im Boden festgesetzt hat, brennt in meiner Nase. Felu, der zwischen uns liegt, übernimmt die Nachtwache. Die Alarmsirene für den Fall der Fälle.
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Seit April lebt Luigi Rossignuolo mit seinem Hund Felu auf der Straße, macht Platte– schläft auf Beton. "Rossignuolo: Bedeutet Nachtigall," sagt er. Luigi ist schwerer Alkoholiker. Über drei Promille braucht er, um überhaupt zu funktionieren. Pegeltrinker nennt man Leute, die nicht ohne können. Rund zwei bis drei Liter harten Alkohol trinkt er. Jeden Tag.
An einem bewölkten Dienstagvormittag im November treffe ich mich mit dem 42-Jährigen. Ich will ihn begleiten, um zu verstehen, wie das Leben auf der Straße abläuft. Um einen Einblick zu bekommen. Denn mehr als das kann es nicht sein.
Wir vereinbaren absolute Ehrlichkeit. „Kein Bock mich zu verstellen. Ich will ich sein.“
Provozieren, um zu existieren
„Guten Tag, die Fahrscheine bitte!“ ruft Luigi durch den S-Bahn-Waggon, der uns in die Stadt bringt und zwinkert mir verstohlen zu. Die Fahrgäste schauen bedrückt weg, weichen seinem Blick aus. Luigi weiß genau, was er für einen Eindruck hinterlässt, wie er aussieht, dass er ein Penner ist. Die Provokationen gegen Passanten helfen ihm, sich lebendig zu fühlen. Irgendwas, um zu spüren, dass er überhaupt noch existiert. Nur Kinder, Mütter und ältere Menschen, die behandelt er mit Respekt.
Den Anschluss an die „Normalos“, hat er schon lange verloren. Deshalb verbringt er die Zeit mit Gleichgesinnten. An einer S-Bahn-Station in der Stuttgarter Innenstadt treffen sie sich. Schon seit Jahrzehnten Anlaufstelle für Penner, Junkies, Alkoholiker und Dealer. Einer nennt es auch das „Wohnzimmer“. Als wir ankommen, werden Luigis Bekannte von Polizeibeamten gefilzt. Eine Frau muss ihren BH entleeren, eine andere den Bund ihrer Strumpfhose entblößen. Rund zweimal täglich werden sie hier kontrolliert. Hosentaschen umdrehen, Beutel öffnen, Personalien feststellen. Erniedrigend findet Luigi das. "Die machen doch nur ihren Job", meint ein anderer.
Immer wieder kommen an diesem Abend Leute zwischen 20 und 30 und fragen nach Drogen, aber Luigis Leute sind keine Dealer. Die wollen hier nur in Ruhe gelassen werden und trinken.
Heroin, die Götterdroge
Aufgewachsen ist Luigi in Italien, mit sechs Jahren nach Stuttgart gezogen. Positive Erinnerungen an seine Kindheit gibt es nicht. Der Vater ein Schläger.
Verschiedene Drogen helfen ihm, den Schmerz und die Einsamkeit der Vergangenheit zu vergessen. Irgendwann bietet ihm jemand „Shore“ an. Minderwertiges Heroin. Das weiß er damals nicht. Er ist 19. Nach vier Tagen setzen die ersten Entzugserscheinungen ein. Er braucht mehr. Von da an ist er abhängig. Heroin sei wie eine liebende Mutter, die einen in den Arm nimmt. Eine Mutter, die er so nie hatte. Diverse Aufenthalte im Gefängnis zwingen ihm zum Entzug, unterbrechen die Sucht. Seinen dritten Entzug macht er freiwillig. Beim vierten klappt es dann. Ob der Entzug wie ein Weg durch die Hölle ist, will ich wissen. Luigi schmunzelt. Die Hölle reicht bei weitem nicht aus, um einen Entzug zu beschreiben. Der Knast hat ihm das Leben gerettet. Das war 2009. Seitdem trinkt er.
„Jetzt kommt der erniedrigende Teil.“ Luigi sucht in einem Mülleimer nach einem gebrauchten Kaffeebecher und stellt ihn vor sich auf den Boden. Es ist schon dunkel, ein kalter Spätherbstabend in einer U-Bahn-Station in der Stuttgarter Innenstadt. Viele Berufstätige haben Feierabend und sind auf dem Heimweg. Luigi hat keinen Cent in der Tasche, muss also schnorren. Zehn Euro braucht er jeden Tag, für Alkohol, Hundefutter und um Schulden, die er gestern gemacht hat, zu begleichen. Sein Hartz-IV-Geld reicht ihm nur einen halben Monat. Das Leben ist teuer auf der Straße.
„Hoffentlich kommt die Polizei nicht, aber die kennen mich. Die sind zu mir korrekt. Weil ich zu ihnen korrekt bin.“ Eigentlich ist unter der Woche Aufenthaltsverbot in der Station. Und aggressives Betteln verboten. Wenn es schlecht läuft, gibt es einen Platzverweis.
Luigi kennt viele der Passanten. Eine Frau Anfang zwanzig schmeißt ein paar Cent in den Becher. Ob es nicht langsam kalt werde. Ob wir etwas bräuchten. Luigi ist gerührt. Es passiert nicht oft, dass jemand stehen bleibt und sich tatsächlich für einen interessiert. Die meisten ignorieren uns. Später erscheinen zwei junge Männer, die auf eBay Schlafsäcke und Isomatten erstanden haben und verteilen. Luigi nimmt dankend eine Isomatte entgegen. Wo es noch mehr Obdachlose gebe, wollen sie wissen. Er leitet die Jungs an den Szenetreff an der S-Bahn-Haltestelle weiter. Man hilft sich untereinander. Später werden sie ihm dort dafür danken. Selbst einer, mit dem er schon länger im Clinch ist. Er wird seine Hand dankend an die Brust heben. „Ich weiß, wir hassen uns, aber wirklich cool von dir.“ Ehre und Respekt sind viel wert auf der Straße, mehr hat man nicht.
Felu springt auf. „Bitte lassen Sie mich in Ruhe, ich tue doch niemandem was. Wir sitzen hier nur!“ Vier Polizeibeamte treten in die U-Bahn-Unterführung. „Den Hund an die Leine!“, ruft die blonde Beamtin, die einen ausgewachsenen Schäferhund führt. Jeden Tag kontrolliert der Polizeibeamte Roy Evans mit seinen Kollegen verschiedene Hotspots, an denen gebettelt oder Platte gemacht wird. Luigi ist ihm kein Unbekannter. „Hast immer noch keinen Personalausweis, oder?“ Eigentlich müsste er eine Ordnungswidrigkeit melden. Aber Luigi hat kein Geld. Das weiß Evans. Deshalb lässt er ihn mit einer mündlichen Verwarnung ziehen. An manchen Tagen sind es viele, die sie wegschicken müssen. Rund 80 Obdachlose gibt es momentan in Stuttgart. Im Winter, wenn das Thermometer unter null Grad anzeigt, sind sie kulanter. Dann haben sie Listen dabei, mit den Nummern für Notunterkünfte. Aber viele gehen dort nicht hin. Auch Luigi nicht – er kann nicht, denn er hat ein Versprechen gemacht.
Im April 2019 fällt Luigis Ex-Freundin in ein Koma, Lungenversagen. Er verspricht, auf ihren Hund Felu aufzupassen. Und Luigi hält seine Versprechen. „Ich bin ein Penner. Aber ein Penner mit Stolz.“ Deshalb kann er nicht in die Notunterkunft. Tiere sind dort nicht erlaubt. Auch einen Wohnsitz bekommt er mit seiner Vergangenheit nicht. Seine Hoffnung darauf, hat er schon lange verloren. „Schau mir doch mal in die Augen! Wer will mich schon?“ Vor wenigen Tagen besuchte er einen Arzt, er hat Probleme mit der Bauchspeicheldrüse. Wenn er weiter so trinkt, wird er nicht mehr lange leben, warnt der Arzt. Aber Luigi wird nichts ändern. Er kann nicht ohne Alkohol.
Gegen Mitternacht suchen wir unser Nachtlager. Vorbei an Bars und Clubs, in denen noch ausgelassene Stimmung herrscht, landen wir in einer Unterführung. Gestern hat noch ein anderer hier geschlafen. Ein verdreckter Schlafsack und eine Handvoll Pappkartons liegen achtlos auf dem Boden verteilt. Luigi breitet seine Isomatte darauf aus. Hoffentlich kommt der andere nicht mehr. Er musste sich schon öfter um den Platz streiten. Ich pinkle in einen Abflussdeckel in einer Ecke der Unterführung, der Urin dampft. Ein relativ sicherer Ort, um Platte zu machen. Hier wird man uns in Ruhe lassen. Luigi nimmt einen kräftigen Schluck vom Kräuterschnaps. Bevor er die Augen schließt, dreht er sich noch einmal um: „Verstehst du jetzt Alkoholismus? Ich saufe, um den ganzen Scheiß hier zu ertragen und um abends, und sei es nur für ein paar Stunden, ins Koma zu fallen.“ Sein Körper schaukelt unruhig im Schlafsack hin und her. Ein paar Stunden, um den wirren Gedanken zu entfliehen. Langsam vermischen sich die Straßengeräusche mit seinem monotonen Schnarchen. Die Kälte des Bodens beginnt, in den Schlafsack zu kriechen. Ich zurre den Verschluss ganz zu und versuche, das helle Licht über mir zu ignorieren.