„Ich wohne jetzt seit 36 Jahren am Schützenplatz, aber bis vor Kurzem habe ich hier fast niemand gekannt.“
Die Fremden von nebenan
Wer im Stuttgarter Kernerviertel die steilen Treppen von der Haltestelle Staatsgalerie Richtung Eugensplatz hochsteigt, läuft ungefähr auf halbem Weg über den Schützenplatz. Umringt von prächtigen Altbauten eigentlich ein Ort mit viel Wohlfühl-Potenzial. Eigentlich. Denn unzählige Parkplätze belegen fast jeden freien Zentimeter, immer wieder rasen Autos über den Platz. Nicht gerade die besten Argumente, um hier zu verweilen. Und doch versammeln sich seit einiger Zeit immer mehr Menschen an diesem Ort. Senioren in schickem Mantel und Hut treten in eine kleine Tür am Ende des Platzes und geben jungen Leuten in hipper Jeansjacke die Klinke in die Hand. Darüber leuchtet ein Schild mit der Aufschrift „Casa“.
Der Eingang gehört zu einem ehemaligen Getränkemarkt. Inmitten der vermeintlich so anonymen Großstadt ist hier ein Ort der Zusammenkunft entstanden. Einige Bürger haben die Räume angemietet, in denen nun regelmäßig und unregelmäßig die Nachbarschaft zusammenkommt. Heidrun Ewe (64) ist oft im Casa anzutreffen. Sie wohnt schon lange in der Großstadt und kennt die Anonymität:
Vor rund zwei Jahren endete das für die Großstadt typische Sich-nicht-kennen für Heidrun Ewe und viele ihrer Nachbarn. Damals formte sich unter den Anwohnern ein gemeinsames Ziel: der Schützenplatz sollte schöner werden. Heidrun Ewe erklärt das so: „Wenn man das Häuserensemble anschaut, ist das eigentlich einer der schönsten Plätze in Stuttgart. Aber der Platz wird durch diese ganzen Parkplätze hier total verschandelt. Das war zunächst unser Ansporn, das zu ändern.“
Als die Stadt einen Umbau des Schützenplatzes ankündigte, sahen einige Anwohner ihre Chance. Sie erarbeiteten eigenständig einen Umbauplan mit möglichst viel Grün und weniger Asphalt. Anschließend sammelten die engagierten Bürger Unterschriften. Die Stadt stimmte dem vorgeschlagenen Plan schließlich zu und die Bewohner hoffen nun auf die Umsetzung.
Durch regelmäßige Informationsveranstaltungen der Umbau-Initiatoren auf offener Straße lernten sich immer mehr Nachbarn kennen. Auch neu Zugezogene hatten so die Möglichkeit, die Menschen von Nebenan kennenzulernen.
Ein Parklet zur richtigen Zeit
Wie es der Zufall wollte, bekamen die losen Zusammentreffen schon bald ein Dach über den Kopf - zumindest im übertragenen Sinne. Im Sommer 2016 wurde von Architekturstudenten genau am Schützenplatz ein sogenanntes Parklet errichtet. Einige Parkplätze wurden dazu mit bunt bemalten Paletten und Möbeln zu einer Art Terrasse umgestaltet. Das Ziel: Einen Ort der Zusammenkunft schaffen.
Das studentische Projekt war eigentlich nur für drei Monate geplant. Doch am Schützenplatz haben sich die Nachbarn so sehr für das Parklet begeistert, dass dieses nach einer kurzen Pause wieder aufgebaut wurde. Jesus „Chucho“ Martinez (31), der für sein Architektur-Studium von Mexiko-Stadt nach Stuttgart kam, ist mitverantwortlich für das Parklet im Kernerviertel.
Dass das Projekt gerade am Schützenplatz auf so viel Zuspruch traf, lag seiner Meinung nach an den Menschen im Viertel: „Das Besondere hier war, dass sich die Nachbarschaft zusammengetan und ein ganzes Projekt rund um das Parklet gebildet hat.“ Am Anfang hat es von einigen Anwohnern offenbar auch negative Reaktionen auf den auffälligen Paletten-Bau gegeben. Einige Autofahrer hätten überhaupt kein Verständnis gehabt und sich über die fehlenden Parkplätze geärgert. Doch nachdem einige Veranstaltungen stattfanden, hätten die Menschen gesehen, dass der Platz einen Nutzen hat.
„Jetzt sind die blauen Paletten schon eine Art Wahrzeichen.“
Wer noch mehr über das Parklet erfahren möchte, kann sich in diesem Audio-Beitrag das Interview mit Jesus „Chucho“ Martinez anhören:
Im Casa kommen alle zusammen
Das Parklet bot den Anwohnern zwar ein erstes Dach über dem Kopf, ein Nachteil der kreativ gestalteten Terrasse ist aber der zeitlich begrenzte Aufbau im Freien. Die Nachbarn wünschten sich verstärkt einen beständigen Raum, in dem sie sich dauerhaft treffen können. Kurzerhand gründete Frank Schweizer (71), der schon seit 40 Jahren im Kernerviertel lebt, gemeinsam mit Heidrun Ewe und einigen Nachbarn den „Casa Schützenplatz e.V.“. Sie haben einen leer stehenden Laden gemietet – direkt am Schützenplatz. In gemeinschaftlicher Eigenarbeit wurden Wände gestrichen, Böden geschliffen und natürlich das „Casa“-Schild über der Türe angebracht. Nun stehen die Räume für verschiedenste Veranstaltungen bereit. Und das wird ausgenutzt. Allein in der ersten Woche nach der Renovierung fanden eine private Geburtstagsparty und eine öffentliche Vernissage statt. Für einen Abend verwandelte sich das Nachbarschaftswohnzimmer außerdem in eine stimmungsvolle Bar, in der leckere Cocktails serviert wurden. Noch mehr Eindrücke vom Casa Schützenplatz findest Du in der interaktiven Infografik.
Frank Schweizer fasst die Idee des Casa so zusammen: „Wir möchten, dass die Tür so oft wie möglich offen ist.“ Er ist überzeugt, dass die Nachbarschaft durch die Räume enger zusammenwachsen wird – generationsübergreifend.
Und tatsächlich: Im Casa kommen die verschiedensten Menschen unterschiedlichster Generationen zusammen. Das bestätigt auch Heidrun Ewe: „Das Schöne ist, dass hier eigentlich der ganze Altersquerschnitt vertreten ist. Nicht nur junge oder alte Leute, sondern die ganze Palette.“ Insgesamt ist ihr besonders wichtig, „dass man die anonyme Stadt einfach ein bisschen menschlicher macht“.
Wer die Nachbarn sind? Am Stuttgarter Schützenplatz können diese Frage immer mehr Großstadtbewohner beantworten.