„Alles hier ist schlecht, es gibt nichts Gutes.“
Moria 2: Ein Blick hinter den Zaun
„Kein Problem, ich werde dir alles sagen, was du wissen willst. Ich werde dir helfen!“, das ist die erste Reaktion von Amir*, einem syrischen Geflüchteten, auf meine Interview-Anfrage.
Amir ist 28 Jahre alt und kam am 15. Juni 2020 mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Töchtern in Moria an. Seit dem Brand, der am 8. September 2020 ausbrach, leben sie im neu aufgebauten Geflüchtetenlager Mavrovouni – von den Bewohner*innen auch Moria 2 genannt – auf der griechischen Insel Lesbos.
Da es nicht möglich war, selbst das Lager zu besuchen, habe ich nach jemandem gesucht, der dort lebt und mir Informationen und Eindrücke aus erster Hand liefern kann. Auf Instagram fand ich Amir. In einem mehrstündigen WhatsApp-Interview stellte er sich meinen Fragen und stand immer für Rückfragen bereit. Außerdem schickte er mir knapp 200 Fotos und Videos, von denen hier nur ein Bruchteil zu sehen ist. All seine Aussagen über die Begebenheiten des Camps wurden an eine Hilfsorganisation vor Ort weitergeleitet und bestätigt.
Es gibt nicht viel, was aus dem griechischen Lager nach außen dringt, und es scheint, als würde die griechische Regierung Wert darauf legen, dass das auch so bleibt. Die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) beispielsweise wirft den Behörden vor, Journalist*innen den Zugang und die Berichterstattung über die Situation im Camp zu verwehren – teilweise auch unter Einsatz von Gewalt. Laut RSF begründete die griechische Polizei den eingeschränkten Zugang den Journalist*innen gegenüber mal mit einer laufenden Militäroperation, mal mit der aktuellen Corona-Situation. Von Seiten der Regierung gibt es dazu kein Statement. Seit dem 7. November herrscht auf Lesbos ein zweiter Lockdown. Allerdings galten diese Maßnahmen schon davor, wie Journalist Jan Theurich, der seit acht Monaten über die Zustände auf Lesbos schreibt, berichtet.
Ein Tag im Leben von Amir
Für gewöhnlich steht Amir um sieben Uhr auf und macht sich auf den Weg zu einer der sechs Wasserstationen im Camp. Die Anstehzeit dort und auch an der Essensausgabe, bei der er danach Halt macht, beträgt teilweise bis zu vier Stunden. Um zu kochen, reicht die vorhandene Elektrizität nicht aus und „jedes Mal, wenn jemand versucht, mit Strom zu kochen, geht die Sicherung in ganzen Teilen des Camps raus.“ Deshalb muss Amir auf einem Hügel abseits der Zelte Feuerholz hacken. Wenn er dann mit seinen verrußten Töpfen, die teilweise schon Löcher haben, das Essen für seine Familie zubereitet, muss er vorsichtig sein – denn seit dem Brand in Moria ist offenes Feuer verboten und wird streng geahndet. Ihm bleibe nichts anderes übrig, sagt Amir, denn im Camp werde lediglich eine warme Mahlzeit ausgeteilt, welche nicht für alle Bewohner*innen ausreiche und meist auch ungenießbar sei. „Wir holen uns nur Trinkwasser, Brot und Tomaten von den Stationen, den Rest kann man nicht essen.“ Deswegen kaufen sich viele Geflüchtete ihr Essen in Supermärkten außerhalb des Camps. Das wiederum erfordert Planung, da die Menschen das Lager seit dem Lockdown nur einmal pro Woche für vier Stunden verlassen dürfen. Wer wann rausdarf, entscheidet das Aufnahme- und Identifikationszentrum (RIC Lesbos) nach Registrierungsnummer der Geflüchteten.
Während Amir den halben Tag damit verbringt, lebensnotwendige Dinge zu beschaffen, spielen seine Töchter mit den anderen Kindern im Dreck. Der Boden im Camp ist höchstwahrscheinlich mit Blei und Schwermetallen kontaminiert, da es sich um einen alten Übungsplatz des Militärs handelt. Nach starkem Regen wurden auch schon Blindgänger an die Oberfläche befördert. Keine Umgebung, in der man seine Kinder für gewöhnlich spielen lässt.
Nach einem anstrengenden Tag gibt es nicht einmal im eigenen Zelt etwas Privatsphäre für Amirs Familie: Ein weiteres Ehepaar lebt in dem Zelt. Die Frau hochschwanger.
Es gibt keine Heizmöglichkeiten und immer noch kein fließendes, geschweige denn warmes Wasser. Es wurden einige Dixi-Duschen errichtet, in denen sich lediglich Frauen einmal wöchentlich waschen dürfen. Männer und Kinder waschen sich im Mittelmeer. Mit Blick auf den nahenden Winter ein wachsendes Problem.
Auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion bestätigte die Bundesregierung, dass es sich bei Mavrovouni um ein Notfall- und Übergangslager für die nach dem Brand obdachlos gewordenen Menschen handelt. Das verdeutliche die griechische Regierung mit dem Plan, bis Sommer 2021 eine neue dauerhafte Aufnahmeeinrichtung zu bauen. Weiter heißt es in der Antwort der Bundesregierung, dass die griechischen Behörden eng mit der Europäischen Kommission und der Flüchtlingshilfsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) zusammenarbeite, um das Lager wetterfest zu machen sowie die Versorgung der Menschen sicherzustellen und auszubauen. Über die momentan unzureichende Versorgung, die durch die Presse geht, hat die Bundesregierung keine eigenen Kenntnisse.
Gefahren im Camp
„Banden aus Alleinreisenden beklauen die anderen Geflüchteten. Und wenn sie es nicht freiwillig bekommen, stechen sie mit Messern zu.“ Amir erzählt, dass Diebstahl ein sehr großes Problem im Camp ist. Gestohlen werden vor allem Handys, Geld und Papiere – lebensnotwendige Dinge für einen Menschen auf der Flucht. Ihm selbst wurde noch nie etwas gestohlen, „vermutlich, weil sie wissen, dass mein Handy nicht gut ist“, fügt er mit einem Lachsmiley hinzu.
Da in Mavrovouni weniger Menschen leben als zuvor in Moria und die Sicherheitskontrollen erhöht wurden, gibt es mittlerweile weniger Gewalt und keine Morde mehr. In Moria wurden von November 2019 bis August 2020 acht Menschen bei Messerstechereien umgebracht. Die operative Leiterin einer großen Hilfsorganisation vor Ort bestätigt, dass es aber trotzdem noch viele Fälle von Erpressung, Zwangsprostitution und häuslicher Gewalt gibt.
Aktuelle Politik und Ausblick
Die griechische Regierung fühlt sich von Europa alleingelassen und setzt infolgedessen darauf, Mavrovouni als Abschreckungslager aufrechtzuerhalten. Unter anderem, indem sie, zusammen mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, illegale Pushbacks betreibt. Bei einem Pushback werden Geflüchtete, die griechische Hoheitsgewässer erreicht haben, gewaltvoll wieder zurück in türkische Gewässer gedrängt. Das ist nach aktuellem Völkerrecht unzulässig.
Wie viel Leid muss an den europäischen Außengrenzen noch geschehen, damit die Länder aufhören, auf eine gesamteuropäische Lösung zu warten? Damit die EU sich nicht mehr auf Versprechungen ausruht und handelt?
Amirs Asylantrag wurde abgelehnt. „Sie gewähren uns kein Asyl, weil wir aus Syrien sind, mit der Begründung, dass die Türkei ein sicheres Land für uns ist.“ Amir sieht das anders. „Die Türkei ist kein sicheres Land für uns und ich bin bereit, das zu beweisen.“
Er hat eine Überprüfung des Asylantrags für sich und seine Familie beantragt und hofft darauf, es irgendwann nach Deutschland zu schaffen. „Wenn ich hier rauskomme, werde ich mir ein Tattoo stechen lassen“, sagt er hoffnungsvoll.
Stand der Informationen: November 2020
*Namen wurden zum Schutz der dargestellten Personen geändert oder weggelassen. Die echten Namen sind der Redaktion bekannt.